Freitag, 11. April 2014

Diese kostbare Überraschung





Als alles nur noch alt schien,
mein Gesicht im Spiegel nur noch alt aussah, grau,
die Mühe, dies zu ertragen, mich auch noch vergessen ließ,
Allahs zu gedenken,
die Hoffnungen und die großen Träume schmächtig geworden waren,
der Karren des Alltags ächzend in der alten Spur fuhr,
so eingefahren, daß er fast steckenblieb,
verzogenes Holzrad in steinhart gewordenem Lehm,
ich mir eingestand, daß ich litt,
auch wenn mein Kopf doch sagte,
daß da immer noch unzählige Gaben Gottes waren,
für die es galt, dankbar zu sein,
doch ich litt,
ich mich entschloß, mich mit meinem Kummer und Leid
an Allah zu wenden,
Allah allein,
Der ja sowieso längst alles wußte,
zusah, wie es mir ging, vielleicht lächelnd,
wußte Er doch, wie es weitergehen würde,
Allah, Der es liebt, wenn wir uns an Ihn wenden,
das ist sicher,
im Gebet an Ihn ich nie unglücklich war,
während es sich selten lohnt,
den Menschen sein Herz auszuschütten,
-         man hat dann Schwierigkeiten, es wieder einzusammeln, -
als ich mich an Ihn wandte,
in meinem Kummer und Leid,
für das ich mich nur selbst verantwortlich machte,
vorsichtig beiseite schob,
was zu sagen nicht richtig gewesen wäre,
da kam plötzlich zum Vorschein,
unter Staub und welken Blättern,
ein dunkelrotglühender Rubin:
Wie sehr ich Allah doch liebe,
wie tief und sicher ich doch weiß,
daß Er der Liebe wert ist,
Al Aziz ---
ewig wert ist, unendlich.
Wie liebe ich Ihn doch.

Es folgte ein neuer Frühling.
Noch geht mein Leben ja weiter.
Schnell wucherte grasgrünes Gras alles zu.

Doch diesen Rubin,
diese kostbare Überraschung,
habe ich nicht vergessen.
So erstaunlich,
wie er da plötzlich vor mir gelegen hatte,
dunkelrotglühend.

(22.07.04)

Ein recht gutes Leben


Von sieben Kindern, innerem Reichtum und... Glück  

 Regine Borrmann





Dem, der nach dem Vorbild des Propheten handelt – ob Mann oder Frau -, schenken wir ein gutes Leben im Diesseits. Außerdem werden wir sie im Jenseits belohnen für das beste, was sie getan haben.
(Koran, Sure Die Biene 16:97)



 Glück

Jeder ist seines Glückes Schmied,
hat da mal jemand behauptet.

Bloß :
Glück ist nicht aus Eisen, und deshalb
kann man es sich
auch nicht schmieden.

Glück
ist ein Geschenk von Gott.

Manchmal ist Glück,
wenn das warme Licht der Nachmittagssonne
ein kunstvoll geschmiedetes Eisengitter
matt zum Glänzen bringt
und dann die Sonne,
glutroter Feuerball,
am Horizont versinkt.


 Allein unter freiem Himmel
  Ich hatte es nicht immer so schön wie an dem Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben. Vor allem: Ich war einmal allein gewesen, ganz allein. Damals hatte ich noch nicht einmal gewußt, daß es Gott gibt.
  Da lief ich mit Rucksack in Schleswig-Holstein an der Ostsee entlang nach Norden. Meine Semesterferien lagen früh im Jahr, es war Ende Februar oder Anfang März, eine denkbar ungeeignete Jahreszeit, um in Deutschland Wanderfreuden zu genießen. Ich wollte ja eigentlich auch etwas ganz anderes. Doch daß die freie Natur so ungemütlich und abweisend sein würde, hatte ich nicht erwartet.
  Außer mir war niemand zu fuß unterwegs. Man konnte sich nirgends hinsetzen, weil es zu kalt war. So aß ich meine Vesperbrote im Stehen. Die Ostsee war mit Eisschollen bedeckt. Daß ich somit etwas besonderes erlebt hatte, etwas was man später würde erzählen können, interessierte mich zu dieser Zeit schon nicht mehr. Ich hüpfte von einer Eisscholle zur nächsten, ein paar Meter weit. In einem Wanderführer hatte ich mir eine Route ausgesucht, die ich laufen würde. Die Jugendherbergen, in denen ich übernachtete, waren fast leer.
  Einmal verspätete ich mich abends, es wurde dunkel. Ich lief durch einen kahlen Wald, der so ganz anders war als unser Kiefernwald im Süden. Ein Glück – Glück? – daß der Mond schien. Ich hatte keine Angst. Als ich in der Herberge ankam – fast hatte ich mich in dem Wald verirrt –, war diese geschlossen. Es war außerhalb der Saison. Die Herbergseltern waren gut zu mir. Jedenfalls zogen sie einen Leinenschlafsack aus dem Schrank, schlossen einen der Schlafsäle auf und brachten mich unter. Am Morgen bekam ich auch ein Frühstück.

  Oder im Sommer vor meinem einsamen Wandern im Norden. Ich hatte mir Fernandos Fahrrad ausgeliehen und treppelte über die spanische Hochebene. Kam mir ganz toll vor, als ich meinen Schlafsack einfach in einem Stoppelfeld ausrollte und allein unter freiem Himmel übernachtete. Das südliche Sternenbild, zirpende Grillen, Weite, Freiheit...
  Die Nacht darauf verbrachte ich in der kleinen Fonda der Eltern von Carmens Freundin. Der historische Ort lag sehr malerisch und ganz typisch spanisch auf einem Felsen, der aus der Ebene ragte, und hatte etwas von einer Festung. Hohe Mauern, grauer Stein. Auch die Menschen wirkten auf mich eher abweisend.
  Carmens Freundin nahm mich mit zu einem Bekannten in das Innere eines alten, fürstlichen Gebäudes. Der junge Mann selbst machte den Eindruck eines verkommenen Sohnes reicher Eltern. Später saßen wir am Rande des Ortes und hatten den Blick weit über die Ebene. Carmens Freundin unterhielt sich mit dem jungen Mann, vielleicht rauchten beide oder zumindest er Haschisch. Ich blieb aus ihrem Gespräch ausgeschlossen. In der Ferne sah man einen breiten Rauchstreifen, der sich über die Ebene schob. Das sei ein Flächenbrand, das gäbe es öfter. Ich versuchte, trotz des Dunkel – es war längst Nacht geworden – mehr zu erkennen, blickte angestrengt in die Ferne, unter dem Rauch sah man ein Glimmen. Ganz langsam stieg Entsetzen in mir auf, Grauen, Angst, dieses große, sich über die Ebene wälzende Feuer... ich nachts im Stoppelfeld... niemand hatte gewußt, wo ich war, niemand hätte nach mir gefragt...

  Ich hatte selten Zeit, solche Erinnerungen auszugraben. Der Alltag mit meinen sieben Kindern war einfach zu ausgefüllt. Doch den Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben,  hatte ich mit Rückenschmerzen im Bett verbracht. Es war ziemlich schlimm diesmal, Schmerzen eben. Bei den Waschungen zum Gebet kam ich nur mit Mühe an die Füße. Die Bewegungen des Gebets konnte ich nicht genau ausführen, beim Beugen mußte ich in die Knie gehen.
  Mein Sohn Mohammed war sechseinhalb. Er saß auf der Fensterbank und war stinkesauer. Gestenreich und vehement beschwerte er sich. Wenn er so in Fahrt war, mußte man sich das Lachen verkneifen. Es sei schrecklich gemein. Und Allah sieht alles, und wir würden schon noch sehen. Und wenn Chadidscha ihm am nächsten Tag wieder keine Mango geben würde, dann würde sie was erleben. Und überhaupt, einen neuen Kuli habe er ja auch nicht gekriegt. Und Chadidscha habe ihn so gemein verprügelt, und gestern auch schon, und er würde nie mehr auf Abudi horchen und auch nicht mehr für uns die Milch bringen. Ibrahim, vier Jahre, meinte ganz unbeschwert: „Dann bring halt ich die Milch!“ Er war gerade vergnügt, plapperte vor sich hin, da war er richtig goldig. Musa war fast unbemerkt zu mir ins Bett geklettert, hatte sich mir an die Brust gelegt und war gleich eingeschlafen. Dabei hatte er noch gar keine Windeln und keinen Schlafanzug an. Das erledigten Chadidscha und Fatima nun mit vereinten Kräften, er protestierte ein bißchen, schlief dann nuckelnd gleich wieder ein. Am Fenster eine unheimliche Stimme ...huh, huh... ich hätte gedacht, das sei Chadidscha, aber Mohammed wußte gleich Bescheid: „Das ist Abudi, der will mir bloß Angst machen!“ Einen Augenblick später war Abdullah – er war neun – mit einem Hops bei mir auf dem Bett, doch da kriegte er erst mal einen Anranzer : „Du hast ja immer noch die gleiche von Schmutz starrende Hose an! Runter von meinem Bett! Und hast du überhaupt schon gebetet?“  Safia, die brave, schlief schon. Das sollten die anderen jetzt eigentlich auch.

Buchstaben und Bonbons
  Gemeinsam mit meinem vierjährigen Sohn Ibrahim lernte ich dazu. Mein Ziel war, ihn dazu zu bewegen, möglichst viel Koran zu lesen und möglichst viel „Schreiben“ zu üben – seine allerersten arabischen Buchstaben - , und dabei möglichst wenig Bonbons als Belohnung einzusetzen. Schließlich machten sie ihm nur die Zähne kaputt. Außerdem ging der Bonbonvorrat, den ich hinter meinen Kleidern ganz oben im Schrank gut verwahrt hielt, gerade bedenklich zur Neige. Sein Ziel war, ganz gleich wie, möglichst viele Bonbons zu ergattern. Einmal waren sie süß, außerdem konnte man damit vor seinen Geschwistern angeben, und schließlich bedeutete jedes Bonbon einen gewissen Sieg über Mamas Knauserigkeit.
  Ibrahim hatte so schön geschrieben, da hatte er wirklich eine Belohnung verdient. Ganz begeistert von seinem Fortschritt kruschtelte ich also ein Bonbon hinter den Kleidern hervor. Da strahlte er. Wenn er lachte, schienen sich seine Mundwinkel fast mit den Ohrläppchen zu treffen. Mit dem Bonbon in der Backe sah es noch lustiger aus. Und dann wollte er gleich noch ein Bonbon haben. Daß die Mama so begeistert war von seine Buchstaben und gerade mal so gebefreudig, mußte doch ausgenutzt werden! Ich ließ mich aber nicht rumkriegen. Wenn ich es zu einer Bonbon-Inflation kommen ließ, war das Ziel verfehlt, dann spornte ein lumpiges kleines Bonbon niemanden mehr an, irgendetwas zu tun! Na ja, wenn er am nächsten Morgen schön Koran lesen würde, dann gäbe es noch ein Bonbon, versprach ich ihm schließlich. Damit gab er sich zufrieden.
  Natürlich hatte er es am nächsten Morgen nicht vergessen, im Gegensatz zu mir. „Komm, Ummi, wir lesen Koran!“ „Ja, gleich,“ meinte ich erfreut ob so viel Eifers. Dann fiel es mir wieder ein: Ach so, das versprochene Bonbon... Aber nun hatte ich etwas dazugelernt. Daß er gerade so willig war, mußte doch ausgenutzt werden! „Ja, komm her, wir lesen. Und wenn ich dir dann das Bonbon gebe, schreibst du auch schön in dein Heft. Heute ist das `Ba` dran...“  Ohne lang nachzudenken, war er gleich einverstanden, las schön Koran, bekam sein Bonbon. „So, und wo ist jetzt dein Heft?“ Ich war mir nicht sicher, ob er es absichtlich „verschlampert“  hatte – das war eher einer von Abdullahs Tricks. Nein, nein, wenn Ibrahim es verlegte, dann wohl wirklich eher aus Schusseligkeit, wir fanden das Heft auch gleich. „Also jetzt die `Ba`s, soll ich dir Pünktchen malen oder schreibst du sie ganz alleine?“ „Ganz alleine!“ Einen Augenblick später kam er mit dem Heft an. Die Linien waren noch genauso leer wie vorher. Ob er nicht vielleicht die halbe Seite auslassen könne? „Nein!“, meinte ich so entschieden, daß er nicht weiter versuchte mich umzustimmen. Ob ich ihm vielleicht doch Pünktchen malen sollte? „Ja, doch,“ fand er jetzt. Also malte ich ihm eine Reihe gepünktelter `Ba`s auf die Linie. „Schau mal, ich hab´ sie schön groß gemacht. Und wenn du sie fertig hast, lassen wir eine Linie frei und schreiben auf die nächste Linie, und dann ist die Seite ganz schnell voll, dann reicht´s!“ „Okay!“ Er zog mit Heft und Bleistift ab. Etwas später legte er beides ganz behutsam auf meinen Schreibtisch. Als er merkte, daß ich ihn gesehen hatte, meinte er: „Ach Mama, ich schreibe das später.“ „Also gut“, meinte ich. Er würde es schon noch schreiben.


Frau Brezna
Ich hatte einen neuen Menschen kennengelernt.
  Wie sehr mich das aufwühlte, merkte ich an meinen Gebeten, die ich plötzlich nicht mehr ordentlich betete. Nicht daß ich die Gebetszeiten nicht korrekt eingehalten hätte, Gott bewahre. Ich hielt auch artig an den freiwilligen, zusätzlichen Gebeten fest, die ich normalerweise bete, und bemühte mich, in jedem Gebet die gewohnte Menge Koran zu rezitieren, obwohl man da durchaus die Freiheit hat, es kurz zu halten. Und ich hielt an den Bittgebeten fest, die ich mir zusammengestellt hatte, in dem Wissen, daß ich alles, um das ich da bat, dringend brauchte. Als ich mich dann im Abendgebet sogar verhedderte, einen vierten Gebetsabschnitt anhängte, wo keiner mehr hingehörte, mußte ich mir eingestehen, daß etwas nicht stimmte.
  Damit daß ich mir das eingestand, platzte eine Haut, die mir zu eng geworden war. Der Islam, Muslim geworden zu sein, bedeutete nicht, daß man angekommen war, nun stehen bleiben konnte, nicht mehr wachsen, sich nicht mehr verändern mußte, im Gegenteil. Islam bedeutete, einen geraden Weg eingeschlagen zu haben und diesen nun vorwärts zu gehen, sich zu verändern, sich zu ändern zum Guten hin.
  Aus der aufgeplatzten Haut quoll meine Aufgewühltheit hervor, und ich versuchte nicht länger, es vor Allah zu verbergen, welch unsinniger Versuch. O Allah, das alles kommt von Dir, es ist von Dir bestimmt. Du kennst meine Liebe zum Schreiben, die ich jahrelang voll Mißtrauen gegen mich selbst und vielleicht aus Mangel an Vertrauen in Dich in schwere Eisenketten gelegt hatte, aus denen sie sich aber ganz leise und sanft Stück für Stück herausgezogen hat und so in Briefe und einige Gedichte schlüpfen konnte. O Allah, Du kennst meine Liebe zum Schreiben nicht nur, Du hast sie gemacht. Bitte, laß mich etwas schreiben, das Deine Anerkennung findet und worauf Dein Segen liegt.
  Allah ist noch so viel größer.

  Der Mensch, den ich kennengelernt hatte, war eine Frau, die schrieb. Sie hieß Irena Brezna. Ich hatte ihr Buch gelesen, eine Freundin hatte es mir aus Deutschland geschickt. Wie lange hatte ich kein deutsches Buch mehr gelesen!
  Frau Brezna stammte aus der Slowakei, aber sie schrieb auf Deutsch. Sie schrieb gut. Sie hatte etwas außergewöhnliches getan. Als es zur sowjetischen Invasion in Tschetschenien kam, das russische Heer über kaukasische Dörfer herfiel und wieder einmal ein friedliches muslimisches Volk Opfer von Gewalt und Grausamkeit wurde, flog sie hin. Sie hatte einen Ausweis als Sonderkorrespondentin, aber den schob sie in die Strumpfhose, band sich ein Kopftuch um, weinte an den Kontrollposten, damit ihr akzentbehaftetes Russisch nicht bemerkt würde, und ging mit tschetschenischen Frauen in ein Dorf, das gerade einen Überfall russischer Soldaten erlebt hatte.
  Sie lieferte nicht einen Bericht wie andere Journalistinnen, die zwar im allgemeinen Zeiten mädchenhafter Anmut hinter sich haben, aber mit offenen Haaren und sich unter Pullovern abzeichnenden Brüsten Berichte abliefern, die genausogut Männer hätten produzieren können.
  Frau Brezna schrieb ein sehr persönliches Buch, das Buch einer Frau. Es war zu einem guten Teil ein Buch über sie selbst. Da beschrieb sie zunächst in einer Fabel voller Bilder, Zwischentönen, wie sie selbst als junges Mädchen von ihrer fliehenden Mutter in die Schweiz gebracht wurde... Russische Panzer hatten die Tschechoslowakei überrollt. Ihr Flug nach Tschetschenien war ihr ein inneres Muß, keine Berufsausübung.
  Ihre Begegnung mit den Tschetscheninnen war von Respekt gezeichnet, ja von Liebe. Da war die Bereitschaft, wirklich wahrzunehmen, statt vorgefaßte Bilder wiederzuerkennen. Umarmt hätte ich sie am liebsten für ihre beißende, gekonnte Satire vom TV-Filmer „auf der Jagd nach der Einheitsträne“, der das Leid des tschetschenischen Volkes routinemäßig, gefühl- und taktlos zu einem mitleidheischenden Null-Acht-Fünfzehn-Bericht über Unglück und Armut verarbeitet hatte.

  Manchmal war ich erstaunt, erschrak fast ein bißchen, wie bedeutungsvoll für mich war, was mein Mann mir zu geben hatte. In einer kurzen Sure im Koran steht ein Satz, den man so übersetzen kann:
 „Wahrlich der Mensch ist verloren außer denen, die den Glauben angenommen haben, richtig handeln, einander ans Herz legen, sich an die Wahrheit zu halten, und einander anhalten, standhaft auszuharren.“
 Die richtigen Worte im richtigen Moment aus dem Munde eines anderen Menschen zu hören, erinnert zu werden an das, von dem man weiß, daß es wahr ist, das man nur im Augenblick aus den Augen verloren hatte... Wenn wieder scharfe Konturen bekam, was zu verschwimmen drohte...
  Nein, nicht erschrecken über die eigene Bedürftigkeit. Wie sehr man sich doch selbst etwas vormacht, wenn man sie nicht sehen will.
  Wie weit bin ich innerlich abhängig von meinem Mann? fragte ich mich. Wir waren über fünfzehn Jahre verheiratet. Abhängig sein – das heißt: in der Luft hängen ohne. Angst davor, nur noch ein halber Mensch zu sein, wenn er nicht mehr da wäre.
  Von Allah bin ich abhängig. Davon, daß Er mir im richtigen Moment das richtige zukommen läßt. Sei es durch meinen Mann, sei es anders. Allah stirbt nicht.

  Frau Brezna hatte mich sehr beeindruckt. Sie war eine mutige, starke Frau. Und dabei dachte sie über sich selbst nach, sie beobachtete gut und war empfindsam. Sie schrieb so gut. Wie bekam man einen Ausweis als Sonderkorrespondentin? Sie hatte veröffentlicht...
  Man darf sich nicht zu sehr beeindrucken lassen. Von nichts und niemandem. Sonst blendet es einen, dann kann man nicht mehr klar sehen.
  Ich schaute mir Frau Breznas Fotos an. Dreimal war sie abgebildet, auf den vielen Schwarzweißfotos des Taschenbuches. Jedesmal sah sie wieder ganz anders aus. Sympathisch. Auf dem Buchdeckel stand, daß sie mit ihren zwei Söhnen in Basel lebte. (Wo war der Vater ihrer Jungs?)
  Wer Frau Brezna wirklich war, wußte ich nicht. Auch ihr Buch war ja nur ein Bild von ihr. Seit sie es geschrieben hatte, waren fünf oder sechs Jahre vergangen. Ich wollte Frau Brezna gerne kennenlernen. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben.
  Als ich den Brief dann auch wirklich schrieb, kam ich allerdings schnell ins Stocken. Was konnte ich Frau Brezna über mich selbst schreiben, über den langen, eigentlich recht abenteuerlichen Weg, den mich mein inneres Muß geführt hatte? Und was konnte ich ihr schreiben von meinem doch recht zurückgezogenen Leben als "Nur-" Haus - und Ehefrau sowie Mutter? Ich mußte ihr etwas schreiben über mich selbst, das war klar, aber eigentlich ging es mir um etwas ganz anderes.
  Frau Brezna hatte in ihrem Buch von der Reihe der Toten gesprochen, die im Paradies weilen durften. Hatte sie das einfach nur so hingeschrieben, wie sie es von den Tschetscheninnen gehört hatte, dann nicht weiter darüber nachgedacht? Sie hatte geschrieben, daß sie sicher etwas Absurdes gedacht hätte, wäre sie in Tschetschenien auf eine Mine getreten. Gott sei Dank, sie war heil zurückgekommen und hatte so ihr ausgezeichnetes Buch schreiben können, aber fragte sie sich denn nicht, was sie wohl denken würde, wenn ihr Leben sein Ende erreichen würde, vielleicht ganz unspektakulär, aber doch plötzlich?
  Gott kam in ihrem Buch nicht vor, und mir ging es vor allem und letztendlich um Ihn. Doch wie konnte ich Frau Brezna das verständlich machen?
  Mein Brief fiel ungelenk und holprig aus, ich war gar nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Trotzdem schickte ich ihn ab, war dann aber weder überrascht noch enttäuscht, daß ich nie eine Antwort erhielt. Vielleicht war ja auch mein Brief oder ihr Antwortbrief auf dem langen Postweg zwischen dem Sudan und Basel verloren gegangen.

Ungewöhnlich
  Wir waren zu Gast bei einer befreundeten Familie, etwa zehn Frauen saßen in einer Runde, außerdem einige ältere Mädchen und viele Kleinkinder. Ich bemühte mich, dem schnellen, lebhaften Gespräch auf Arabisch zu folgen, was mir wegen des irakischen Dialektes nicht ganz leicht fiel.
  Fatima setzte sich neben mich und flüsterte mir ins Ohr. „Mama, mir ist was passiert. Als wir im Schwimmbassin geplanscht haben, ist mir ein Spielzeug ins Ohr geraten. Jetzt höre ich auf dem Ohr nichts mehr, und es tut mir weh.“ „Wie kann denn so was passieren, welches Spielzeug denn?“, war meine erste Reaktion. Ich schaute auf die Uhr und überlegte. Ein Arztbesuch würde Nerven kosten und aller Erfahrung nach unbefriedigend verlaufen. In der Regel wirkte die Diagnose wenig überzeugend, und man bekam routinemäßig eine Flasche Antibiotikum und ein Schmerzmittel verschrieben. Und es war sowieso schon zu spät abends, um überhaupt noch einen Arzt anzutreffen.
  Sollte das Trommelfell verletzt sein? Eine schlimme Vorstellung, wenn meine Tochter von nun an nur noch auf einem Ohr hören würde...Keine Macht noch Kraft außer bei Allah. Schlimmen Vorstellungen galt es die Lehren unseres Propheten und die Geschichten aus dem Leben der Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, entgegenzusetzen. Da war die Geschichte von Erwa bin Zubair, einem großen Gelehrten, dem das Bein amputiert werden mußte. Nach der Amputation lobte er Allah und dankte Ihm dafür, daß er ja noch drei gesunde Gliedmaßen übrig hatte...
 „Gott sei Dank, du hast ja noch das andere Ohr. Und überleg mal, es gibt Menschen, die ganz taub sind, manche sogar von Geburt an. Wenn man sich das vorstellt! In scha Allah, so Gott will, gehen wir morgen zum Arzt.“
  Wieder zuhause saß ich bis spät in die Nacht und schrieb. Als ich schließlich zu Bett gehen wollte, hatte Musa, der dort schon lange friedlich schlummerte, seine Hand an sein Ohr gelegt, ungewöhnlich. So schlief er sonst nie. Mir fiel Fatimas Ohr wieder ein. Ich bat Allah, Er möge es einfach wieder gut werden lassen.
  Es begann nach Staub zu riechen. Wir bekamen Staub, so wie man in Deutschland Regen bekommt. Einen Sturm brauchte es dazu gar nicht.
  Das war im letzten Drittel der Nacht, als es schon auf den Anbruch der Morgendämmerung zuging. Zu dieser Zeit ist Allah Seiner Schöpfung besonders nahe, wenn man das so ausdrücken kann. Um diese Zeit nimmt Er Bitten bevorzugt an, sozusagen. Diese Dinge sind schwer zu übersetzen – sie stimmen so, wie der Prophet sie auf Arabisch gesagt hat, aber wir können sie nur begrenzt verstehen und nur übersetzen, was wir verstanden haben.
  Als wir zum Morgengebet aufstanden, kam Fatima zu mir und meinte glücklich: „Ich kann wieder ganz normal hören, es ist vorbei.“ Wundergeschichten? Alles hat seine Gründe und Zusammenhänge, und wir kennen sie nur zum Teil. Vielleicht war etwas im Ohr angeschwollen gewesen oder leicht entzündet und hatte sich über Nacht erholen können. Das Wunder lag darin, daß ich Gott gebeten hatte, die Bitte sich erfüllt hatte und daß ich wußte, daß das von Gott so bestimmt war.

Beginn der Regenzeit
  Es war ganz früh am Morgen, gerade erst war es hell geworden. An den Schatten sah ich, daß die Sonne wohl gerade aufgegangen sein mußte. Ich saß auf einem der blauen Stühle, die meinem Rücken so wohl taten, im Hof vor der Küche, den wir den Frauenhof nannten.
  Über mir strömte das Wasser rauschend in die Wassertonnen, die auf dem Dach installiert waren und uns als Wassertanks dienten. Es klang hohl, was bedeutete, daß sie noch fast leer waren. Gott sei Dank hatte ich daran gedacht, die Wasserpumpe gleich einzuschalten. Der Motor lief ruhig und gleichmäßig.
  In scha Allah, so Gott wollte, würden wir heute endlich Wäsche waschen können. Normalerweise wuschen wir dreimal die Woche: samstags, montags und mittwochs. Wegen der Stromausfälle hatten wir nun schon seit Mittwoch nicht gewaschen, es war Montag. Der große Wäschekorb war gestopft voll mit schmutziger Wäsche. Die Haushaltshilfe hatte versprochen, pünktlich zu kommen. Ich stülpte den Schlauch über den Wasserhahn am Waschstein und steckte ihn in die Waschmaschine. In der Küche stand der Topf mit der Seifenlauge schon auf dem Feuer.
 Alle schliefen noch, erschöpft von der Hitze der vergangenen Tage. Ich würde mich dann um die Mittagszeit hinlegen. „Der Segen liegt für jene, die mir nachfolgen, in den Morgenstunden.“  hatte der Prophet gesagt. Daß Morgenstund Gold im Mund hat, weiß man in Deutschland ja auch.
  In der Nacht hatte es geregnet, die jüngeren Kinder hatten da schon geschlafen. Abudi hatte an die Tür des großen Raumes geklopft, den wir „das Büro“ nannten. Gleich ließen wir die Fernsehdiskussion stehen, über die wir uns sowieso nur geärgert hatten, und gingen ins Freie. Mein Mann, die drei großen Kinder und ich begannen Allah zu bitten. Wenn Regen fällt, ist das ein besonders passender Moment dafür.  Wie schade, daß  die Menschen in Deutschland das nicht wußten, wie viel Gutes entging ihnen da!
  Gott bitten - das war, was neu gewesen war, nachdem ich zum Glauben gefunden hatte, daß es  Gott überhaupt gibt. Das war nun sechzehn Jahre her. Im Islam dann, etwas später, lernte ich, daß es der Kern, auf Arabisch das Hirn, des Dienstes an Gottes ist, Ihn zu bitten. Gott weiß, was wir uns wünschen, Er weiß, was wir brauchen, doch Er will von uns, daß wir uns bittend an Ihn wenden, an Ihn, Der Seine Gaben so reichlich, großzügig und weise austeilt. Und wenn wir Gott bitten, sollen wir ganz davon überzeugt sein, daß Er unsere Bitten annimmt und erhört. "Wenn meine Diener dich nach Mir fragen, so bin Ich nahe. Ich erhöre die Bitte des Betenden, wenn er Mich bittet. So sollen sie denn auf Mich hören und an Mich glauben, dann werden sie mit Sicherheit rechtgeleitet sein." steht im Koran.
  Der Regen war sanft und schön. Ich genoß das Geräusch der Tropfen auf dem Sonnensegel zwischen Eßdiele und Küche. Fatima kam – unpassenderweise – mit Vaters Papierkorb an, um ihn in der Küche vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Er hatte zum Ausleeren draußen gestanden.  Ihr Gesicht sah glücklich aus. Sie sagte: „Chadidscha hat mir gesagt, ich soll mich drauf einstellen, daß gleich wieder der Strom weg ist.“ Es gab noch ein paar Kerzen auf dem Küchenfenster, wir legten sie auf den Kühlschrank, um sie gleich bei der Hand zu haben. Leider hatten die Kinder die aufladbaren Lampen kaputtgemacht.
   Dann war ich wieder allein, unter dem Sonnensegel. Der Regen und der Wind zausten unseren kleinen Baum, dessen Krone aus dem Männerhof über die Mauer ragte. Die Krone des Baumes sah nun wuschelig aus, weich, ganz anders. – Der Strom fiel nicht aus, es regnete auch nirgends ins Haus hinein. So sanft und freundlich, wie der Regen gekommen war, hatte er auch wieder aufgehört.
  - - Ein Blick in meine halbautomatische Waschmaschine: Das Wasser war braun, fast dunkelbraun! Durfte das wahr sein? Keine Macht noch Kraft außer von Allah. Ich bog das Abflußrohr in das Becken des Waschsteins und ließ das Wasser wieder ablaufen. Bismillah, im Namen Allahs, es sollte doch für Ihn sein, sind wir doch nur auf der Welt, um Ihm zu dienen. Er hat das so gemacht, daß Wäsche dreckig wird und man sie dann waschen muß. Ich drehte  den Wasserhahn nochmal auf, um die Maschine gleich wieder vollaufen zu lassen. Möglicherweise kam das Wasser inzwischen sauber.
    Plötzlich verstummte das gleichmäßige Geräusch der Wasserpumpe und das Rauschen über mir. Was?  Ich blickte auf die Uhr in der Küche – sieben Uhr! An beiden vorangegangenen Tagen war der Strom um acht Uhr weggewesen und erst nachmittags um fünf wiedergekommen. Ich hatte fest damit gerechnet, daß wir an diesem Tag Strom haben würden. Oft wechselten sich Tage mit Stromausfall und solche mit Strom miteinander ab. Aber so war das halt im Sudan: Man konnte sich auf nichts verlassen. Man wußte nie im Voraus, wann es Strom geben würde und wann nicht, und das machte die Stromknappheit noch viel anstrengender. Es gab zwar gewisse erfahrungsmäßige  Wahrscheinlichkeiten, aber mehr nicht.
  Mir schwante Fürchterliches. Im Jahr zuvor um diesselbe Jahreszeit war der Strom so knapp gewesen, wie ich es in den mehreren Jahren, die ich jetzt immerhin Sudanerfahrung hatte, sozusagen, noch nie erlebt hatte. Manchmal hatten wir von 24 Stunden nur drei Stunden Strom gehabt. Abgesehen von Schweiß, Hitze und allgemeiner Klebrigkeit bedeutete es, daß ich Tiefkühltruhe und Kühlschrank nicht wie gewohnt benutzen konnte. So mußte man sehr viel mehr Aufwand treiben mit Einkaufen und Kochen. Wenn das wieder so schlimm werden sollte, konnte ich mir auf jeden Fall das Schreiben gleich abschminken.
  Keine Kraft noch Macht außer bei Allah. Für einen Augenblick war ich in Versuchung aufzugeben. Halt noch ein Tag ohne frischgewaschene Wäsche,  jeder würde wohl schon irgendetwas finden, das er anziehen könnte, und zur Not konnte man ja auch in schmutzigen Kleidern rumlaufen. Es machte aber einen Unterschied, nein, es war nicht egal. Es wird einen Tag geben, an dem es ganz und gar nicht egal sein wird. „ Und wer auch nur ein Staubkörnchen Gutes getan hat, wird das (am Tag des Jüngsten Gerichtes) sehen, und wer auch nur ein Staubkörnchen Schlechtes getan hat, wird das sehen.“ , steht im Koran.
  Die Waschmaschine war zum zweiten Mal vollgelaufen. Das Wasser war nun lediglich gelblich, das ging schon. Ich schloß die Wasserhähne der Wassertonnen auf dem Dach, von denen aus das Wasser in die Leitungen des Hauses floß. Es konnte leicht passieren, daß eines der Kinder das Wasser im Klo nicht wieder zudrehte und dann im Handumdrehen das gespeicherte Wasser alle war.  Dann öffnete ich den Wasserhahn am Waschstein, um den Wasserdruck in der öffentlichen Wasserleitung  zu prüfen. Gott sei Dank, es kam noch Wasser, wenn auch nicht sehr stark. Vermutlich würde später kein Wasser mehr von außen kommen, dann würde ich das Wasser aus den Tonnen auf dem Dach benutzen müssen. Ich entschloß mich, Sadek zu wecken.
  Er hatte wenige Tage zuvor eine kleine Strommaschine gekauft. Ich mußte dringend lernen, mit ihr umzugehen. Gut, daß ich am Tag zuvor schon erwähnt hatte, wie dringend wir waschen mußten. Er stand sofort auf, warf das Strommaschinchen an  und schloß die Waschmaschine daran an. Wir würden noch mehr Benzin benötigen, um alles zu waschen, aber die Waschmaschine drehte sich schon mal mit dem kleinen Rest an Benzin, der noch da war. Es galt keine Zeit zu verlieren, um das Wasser von außen zu nutzen und den jetzt bereitgestellten Strom. Das Strommaschinchen lief. Schnell sortierte ich die Wäsche im Wäschekorb aus, um nur das Wichtigste zu waschen. „Die beste aller Angelegenheiten ist die, die in der Mitte liegt“, hat der Prophet gesagt. Auf Deutsch ist das der goldene Mittelweg. Alles waschen zu wollen, wäre übertrieben gewesen.
  Das Schöne bei einer halbautomatischen Waschmaschine ist, daß man direkt in den Waschvorgang eingreifen kann. Sie ist von oben offen, die Wäsche dreht sich einmal rechts herum und einmal links herum. Ich stellte mich neben die Waschmaschine. War das vernünftig? Womöglich würden  meine Rückenschmerzen wieder schlimm werden und ich würde bereuen, daß ich mich nicht entschließen konnte, Chadidscha zu wecken und um Hilfe zu bitten.
  Jedesmal wenn die Waschmaschine ihre Drehrichtung änderte, gab es eine kurze Pause. Die nutzte ich, um die Kleidungsstücke je nach Verschmutzungsgrad – zuerst die weniger verschmutzten – herauszuziehen. Ich schaute sie mir an. Was mir sauber erschien, wrang ich aus, das sollte die Haushaltshilfe dann von Hand ausspülen.
  Die Haushaltshilfe kam nicht pünktlich, sondern um neun. Ich sagte nichts, sie hatte einen weiten Weg, und die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht zuverlässig und anstrengend. Auch krempelte sie sofort die Ärmel hoch und nahm mir aus der Hand, was noch von der Wäsche übrig geblieben war. Es war nicht mehr viel, und wir konnten mit dem restlichen Benzin tatsächlich noch die Wassertonnen auf dem Dach vollpumpen, nachdem die Waschmaschine nicht mehr gebraucht wurde.
  Beim Frühstück hielt ich meinen Kindern eine Ansprache. „Hört mal, jetzt fängt die Regenzeit an.“  „Toll!“, meinte Ibrahim mit seinem goldigen Stimmchen. „Regnet es jetzt gleich?“  „Allahu aalem, das weiß Allah am besten. Ich glaube nicht, daß es jetzt gleich regnet, aber möglich ist es natürlich. Jedenfalls, Kinder, wir müssen jetzt besonders gut Ordnung halten. Ihr wißt ja, wie das ist: Oft kommt zuerst ein Staubsturm und dann der Regen, und alles, was rumliegt auf dem Boden, ist dann ganz schnell voll Matsch und dreckig. Und dann gibt es vielleicht keinen Strom oder kein Wasser, und wir sitzen im Dunkeln im Dreck und können wenig machen, und alles ist eklig. Also, ihr dürft keine Kleider rumliegen lassen, und auch die Schuhe kommen am besten immer in den Schrank.“  Ich sah ihnen an, wie sie gute Vorsätze faßten. Natürlich würden sie sie sofort wieder vergessen, und ich würde sie ständig daran erinnern müssen. Das nahm ich mir nun meinerseits vor. Eigentlich war die Regenzeit vielleicht ein ganz gutes Training, mehr Ordnung zu halten.
  Um ein Uhr war plötzlich der Strom wieder da. „Allahu akbar!“, riefen die Kinder, das machte ihnen Spaß. Und der Tag war nicht ganz so heiß wie die Tage zuvor. Die restliche Wäsche im Wäschekorb konnten wir dann auch gleich wegwaschen.
  Es folgten mehrere Tage ohne Stromausfall, ohne Staub und ohne Regen.


Blick in den Himmel über meinem Hof
  Der Himmel über meinem Hof war mit wunderschönen Wölkchen geschmückt. Er war hellblau und sehr hoch. Diese Weite. Der Himmel war so groß. Wie klein waren da all meine kleinen Weisheiten, mein bißchen Wissen, das ich so dringend brauchte, um mein kleines Leben auf die Reihe zu kriegen.
  Was war über den Wolken, hinter dem Himmel, wie weit war das Weltall, wo war es zu Ende? Andere Sonnensysteme, schwarze Löcher, alles strebt auseinander und wird irgendwann wieder in sich zusammenfallen. Sagt die Wissenschaft. „Und den Himmel haben Wir gebaut durch Kraft, und wahrlich, Wir dehnen aus.“  steht im Koran. Und: „Alles vergeht außer Seinem Antlitz. Sein ist das Urteil, und zu Ihm werdet ihr einst zurückgebracht.“
  Einmal wird das alles hinter uns liegen, und es wird uns vorkommen, als hätten wir nur einen Tag verweilt, oder sogar nur den Bruchteil eines Tages. Ob ich dann wirklich zu denen gehören würde, die das Paradies betreten dürfen, die es verdient haben? Womit denn? Da sind meine Gebete, die ich bete, so gut ich kann. Wieviel sie wohl wert sind bei Allah? Das Gebet ist das erste, wonach wir gefragt werden am Tag des Gerichts. Sind sie in Ordnung, dann wird alles gut.
  Da ist mein Bemühen um den Koran. Je mehr ich auswendiggelernt habe, je öfter ich ihn gelesen habe, je mehr ich mich mit Erklärungen befaßt habe, desto mehr erkenne ich, wie gewaltig er ist, und daß ich ihn niemals werde erfassen können. Und da waren noch andere Offenbarungsschriften – der Psalter, den David erhalten hat, Moses´ Thora, Jesus´ Evangel. Andere Sprachen, was alles mochte in ihnen geschrieben stehen... „Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herrn, bestimmt würde das Meer erschöpft sein, bevor die Worte meines Herrn erschöpft wären...“
  Dieses riesige Weltall, das aber doch endlich ist und einst ein Ende nehmen wird... Zu meiner Überraschung fanden wir es in Chadidschas Was-ist-was-Sachbuch „Die Zeit“:
„Die Zeit ...hat wahrscheinlich Anfang und Ende. Sie kam mit dem Weltall und wird mit diesem wieder verschwingen.“
Allah hat es angekündigt: „Wir werden ihnen unsere Zeichen zeigen an den Horizonten und in ihnen selbst, bis ihnen klar wird, daß es die Wahrheit ist.“ Das wußten sie jetzt also schon.
  Mein Blick glitt ab in unseren Hof. So schön war er gar nicht, mehr praktisch. Da standen meine Waschmaschine und die Wassertonne, hingen die Sonnensegel, ein bißchen schief. „Ich liebe ihn aber, meinen Hof," dachte ich, "das heißt, ich liebe es, hier zu sitzen.“ Das diesseitige Leben hatte mich wieder. „Es ist nichts als eine Gabe von Gott, die genutzt sein will“, dachte ich noch. Es galt diese Zeit zu nutzen, die uns gegeben war und die ihr Ende nehmen würde...
  Im Abendgebet kamen mir die Tränen. Ich spürte die Weite, die der Blick in den Himmel in meiner Brust hinterlassen hatte. Diese Tränen waren keine Rührseligkeit. Männer, die die halbe Welt erobert, dann weise regiert haben, haben sie vor mir geweint. Sie kämpften am Tage, zu Pferde, mit dem Säbel in der Hand, und verbrachten die Nächte im Gebet stehend, als wären sie Mönche... und weinten, bis ihre Bärte naß waren von den Tränen. Diese Tränen sind Wissen um Allah im Herzen. Da schmilzt etwas, Härte, die all jene Sünden hinterlassen haben , die bei Allah festgeschrieben sind und die wir vergessen haben...

Blick ins Internet
  Ein kurzer Blick ins Internet – endlich wollte ich die neue Möglichkeit nutzen und ein wenig in deutschen Zeitungen blättern.
  Eine Welle von Feindseligkeit schlug mir entgegen. Stimmungsmache gegen solche, die es gewagt hatten, an Israel Kritik zu üben, Stimmungsmache gegen Palästina und die Palästinenser, gegen die „Moslems“. Wir befanden uns im Krieg. „Wer sich nicht auf unsere Seite stellt, ist unser Feind!“ hatte es aus Amerika getönt. Stimmungsmache an sich schien mir gar nicht so verabscheuungswürdig. Sie war eine Waffe der Kriegsführung. Im arabischen Fernsehen wurde sie auch nach Kräften betrieben, natürlich, bloß andersrum.

Eselmist
  Die Straße vor unserem Haus war ungeteert und bestand aus Sand. Jeden Morgen brachte uns der Milchmann per Eselkarren frische Milch ins Haus. Chadidscha holte das Geld aus dem Büro, Abudi die Blechkanne aus der Küche.
  Ich hatte ihnen mehrmals gesagt, daß sie an diesem Tag die doppelte Menge kaufen sollten. „Habt ihr drangedacht?“ „Schon,“  meinte Abudi, unterdrückte ein Grinsen, es zuckte um seine Mundwinkel und um die Augen. „Was ist los?“ „Mama, der Esel steht doch vor unserem Hoftor, wenn wir die Milch kaufen... und manchmal muß er doch Kackerchen machen, oder? Also, er hat genau vor unserer Tür ein Riesenkackerchen gemacht... es ist ziemlich flüssig...“ Die jüngeren Kinder, die ihn umrahmten, kicherten. Abudi konnte sich auch nicht mehr halten und mußte lachen. „Na ja...“  Ich mußte auch lachen.
  „Das heißt, wenn jetzt jemand zu uns kommt, tritt er rein, macht sich die Schuhe schmutzig und uns den ganzen Boden.- Also, flüssig ist es? Dann kann man es wohl schlecht wegmachen... ach, weißt du, kipp einfach einen Eimer Sand drüber!“
  Machte er dann auch. Er hätte den Eselmist auch einfach auf sich beruhen und liegen lassen können...
  „Besitz und Kinder verschönern das diesseitige Leben...“ heißt es im Koran. Und geht weiter: „... Aber bleiben wird rechtschaffenes Handeln. Es wird von deinem Herrn hoch belohnt und läßt Gutes erhoffen."

Wenn ihnen ein Unglück zustößt
  „Und sicher werden wir euch Prüfungen aussetzen mit etwas Furcht und Hunger und mit Verlust an Besitz sowie Rückgang der Bevölkerung und der Ernten. Doch künde den geduldig Ausharrenden Gutes an, die wenn ihnen ein Unglück zustößt, sagen: 'Wahrlich, wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.' Auf diesen liegen Segnungen von ihrem Herrn und Barmherzigkeit, und sie sind die Rechtgeleiteten.“ So steht es in zwei Versen im Koran. Der Koran besteht aus insgesamt 6236 Versen, und, wie soll ich sagen, ist ungeheuer dicht, unglaublich dicht, da ist kein Wort zu viel, Gott bewahre, natürlich nicht, und jeder Vers, jedes Wort, jeder Buchstabe hat eine Tiefe, die mindestens so unergründlich ist wie der Ozean. "Und sie begreifen von Seinem Wissen nur so viel, wie Er will," steht an einer Stelle. Auch wenn wir den Koran mit gläubigem Herzen lesen, bereit, anzunehmen was da steht, nicht mit den Abers hinter dem Rücken, sogar wenn wir ihn ganz auswendiglernen, Buchstaben für Buchstaben - wir werden ihn nie erfassen können. Und dann gilt es noch, das was wir begriffen, verstanden haben, präsent zu halten, daran zu denken, denn wir wollen es doch in unserem Leben umsetzen. Die Natur des Menschen ist es, zu vergessen. Deshalb muß er immer wieder erinnert werden - daran, wo er herkommt, wer er eigentlich ist, und daran, was Gott von ihm will und was Er ihm versprochen hat. Diese Erinnerung ist uns der Koran. Deshalb haben wir ihn nie ausgelesen und lesen ihn immer wieder und wieder und lesen ihn immer noch. -
  Noch eine knappe Stunde bis zum Mittagsgebet, höchste Zeit, mich ein wenig hinzulegen. Auch spürte ich die Müdigkeit. Kaum hatte ich mich ausgestreckt: „Rumms!“ knallte eine Tür am anderen Ende des Hauses. Und gleich nochmal: „Rumms!“ Unsere Türen waren aus Eisen und Glas, wohl weil sich Holz bei der Hitze schnell verzogen hätte. Das bedeutete, sie machten ordentlich Krach, und außerdem konnten die Glasscheiben zerbrechen... Und schon wieder: „Rumms! Rumms! “ – „Kinder!“, ließ ich einen Schreier los. Ich wollte schlafen. Nur noch eine Dreiviertelstunde zum Gebet – und ich brauchte meinen Schlaf doch auch!
  Nach einer kurzen Ruhepause ging es wieder los. „Rumms!“ Und ein ganz besonders lauter Knaller : „Rummms!“ Es half nichts. Ich stand auf und ging in Richtung Büro. Kein Kind weit und breit. Ich hatte keine Lust, sie erst zu suchen, und klemmte einen Plastikbaustein zwischen Tür und Türrahmen von Abudis Zimmertür. Hamudi tauchte auf. Vermutlich hatten ihn die Großen geschickt, um mal zu schauen, ob die Mama noch um die Wege war, oder ob man weiterspielen konnte. Ich schärfte ihm ein: „Keiner nimmt den Plastikstein weg! Keiner schmeißt mehr mit den Türen!!“ Dann ging ich zurück in mein Zimmer, streckte meine Knochen aus, ah, welche Wohltat, die feste Matratze unter meinem Rücken zu spüren.
  Ich schlief schon halb, da machte es wieder: „Rumms!“ Danach klangen die begleitenden Geräusche , die Stimmen der Kinder, irgendwie verändert. „Mama!“ „Aha!“, dachte ich. Und: „Hoffentlich hat sich niemand mit einer Glasscheibe verletzt.“
  Abudi kauerte in der Diele vor seinem Zimmer wie ein Frosch auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Neben ihm, auf dem Boden, zahlreiche dicke Tropfen frischen Blutes... Zuerst dachte ich: „Vielleicht hat er bloß Nasenbluten.“
  Als Chadidscha noch klein war, sich ihren Finger in der Waschmaschinentür eingeklemmt hatte und ich sie zum ersten Mal bluten sah, wäre ich fast umgekippt. Inzwischen war ich einigermaßen abgehärtet. Unsere Kinder waren immer voller Schrammen, Verbandszeug und Wundsalbe lagen bereit. Wir desinfizierten eifrig, bei dem Klima konnte sich eine Wunde leicht entzünden.
  „Was ist denn los?“ fragte ich und begann zu schimpfen, was mir aber im gleichen Augenblick auch schon leid tat. Was hatten sie denn auch so wild gespielt. Der Plastikbaustein klemmte übrigens noch, es war die gegenüberliegende Tür gewesen, durch die sie mit Vollgas durchbretterten. Weil Abudi der flüchtende Bösewicht war und Fatima ihn als Polizist verfolgte...
  Abudi hatte eine Platzwunde über dem Ohr, nicht schlecht, Herr Specht, zwei bis drei Zentimeter lang. In Deutschland würde man das bestimmt nähen. Hier würden sie einen im Krankenhaus möglicherweise auslachen und wieder nach Hause schicken. „Chadidscha, Watte!“ Ich beschloß, lieber meinen Mann anzurufen. Sein Geschäft war ganz in der Nähe. Er kam sofort und versorgte die Wunde. Er konnte so was gut.
  Außer der Platzwunde hatte Abudi noch eine dicke Beule über dem anderen Ohr, und das Schienbein hatte er sich auch angeschlagen. Weh tat das schon. Sein Gesicht sah verändert aus, magerer, schmaler, ein bißchen spitz. Er jammerte überhaupt nicht, von Anfang an war er einfach still gewesen. Ich faßte ihn an den Schultern, da war Gott sei Dank noch alles ganz, drückte ihn kurz ein bißchen.
  Nun, der imposante Kopfverband, den ihm Vater verpaßt hatte, war nicht schlecht. Außerdem in Vaters Büro ausruhen zu dürfen, das Essen speziell für sich auf einem Tablett serviert zu bekommen... Abends brachte ihm mein Mann sogar teure Fruchtsäfte mit. Sollte er ruhig ein bißchen Aufmerksamkeit extra kriegen, das tat ihm vielleicht mal ganz gut. Großzügig gab er Hamudi von seinen Fruchtsäften ab.
  Ob es wohl eine große Narbe geben würde? Das wäre nicht so schlimm gewesen, an der Stelle waren ja Haare drüber. Schade, nur. Ich hatte nicht gesagt: „Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“ Wenn es auch kein großes Unglück war, das uns da zugestoßen war. Es wäre eine Gelegenheit gewesen. Für mich. Mir Segnungen von meinem Herrn und Barmherzigkeit zu verdienen, zu den Rechtgeleiteten zu gehören. Hätte ich gerne gehabt. Schade. Vielleicht nächstes Mal? Falls es ein nächstes Mal geben würde. Man wußte ja nicht, wie lange man noch leben würde.
   „Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück.“

Eine Frau ist eine Frau.
   Eine Frau ist eine Frau. Hosen, kurze Haare und Karriere ändern das auch nicht. Wollen wir einmal beiseite lassen, daß es einer Frau passieren könnte, vergewaltigt zu werden und sie das auch immer weiß: Selbst wenn sie auf Kinderkriegen, Stillen, Muttersein verzichtet, in Berufsleben und Öffentlichkeit ihren Mann steht – was sie gut kann, in einer Welt, in der körperliche Kraft keine Rolle mehr spielt, es normal ist, beruflichen Erfolg über die Familie zu stellen, Empfängnisverhütung zum guten Ton gehört - , kreisen doch in ihrem Körper die Hormone, die sie, manipuliert durch die Pille oder nicht, dreißig Jahre ihres Lebens lang, oder länger, allmonatlich ihre Regel bekommen lassen, und steht in der DNS jeder einzelnen Zelle ihres Körpers geschrieben: weiblich.
 „Und das Männliche ist nicht wie das Weibliche“, steht im Koran. Und: „...Mann oder Frau, die einen von euch sind doch von den anderen...“
  Ich war überrascht und erschrocken. Tränen waren mir in die Augen getreten, ein Schluchzer hatte sich meiner Brust entrungen. Also doch wieder: Ich konnte nicht mehr. Ich hatte gedacht, das läge hinter mir.
  Mein Versuch, aus Gebet und Koran Kraft zu schöpfen, war fehlgeschlagen, irgendwie ging es nicht mehr weiter, meine Bemühung war krampfhaft geworden. Der ganze Schwung war weg. Ich mußte es mir eingestehen. Im Grunde hatte ich mich ja selber gequält, wie ich in den letzten Tagen immer nörgeliger und liebloser mit den Kindern umgegangen war. Sogar mit Chadidscha war ich aneinandergeraten. Groll gegen meinen Mann stieg in mir auf. Warum vernachlässigte er uns so?! Kein anerkennendes Wort, er hatte mich nicht einmal angeschaut, als ich ihm und seinem Gast am Mittag...  Stop.
  Ich war seit nunmehr fünfzehn Jahren verheiratet. Daß ich aufpassen mußte, wenn das so losging, hatte ich irgendwann begriffen.
  Da war das Wort des Propheten, daß die Mehrheit der Bewohner der Hölle Frauen sind. O wie ungern hörte ich das, vorbelastet mit der tiefsitzenden Angst der modernen Frau, mein Frausein könnte bedeuten, daß ich ein Mensch zweiter Klasse sei. Daß Kleriker einst diskutierten, ob die Frau überhaupt eine Seele habe, hat tiefe Spuren hinterlassen... Und so war ich lange nicht aufnahmefähig für die Fortsetzung des Wortes des Propheten. Er wurde nämlich gefragt, wieso das denn so sei. Und antwortete: „Sie sind undankbar gegen den, der sie ernährt. Da bist du die ganze Zeit gut zu einer von ihnen, und wenn sie dann einmal etwas an dir auszusetzen findet, sagt sie: Du warst noch nie gut zu mir.“
    Mein Mann hatte seit Beginn unserer Ehe viel Geduld mit mir. Er war liebenswert zu mir und behandelte mich voll Respekt und Achtung. Nie wäre er auf die Idee gekommen, mir vorzuhalten, daß er mich ja ernährte. Daß es das Recht der Frau ist, ernährt zu werden, steht im Islam fest, wie feststeht, daß der Mann die Verantwortung und die Führung hat.
  Mein Mann ernährte mittlererweile neun Personen. Er war selbständig. Je nach der Lage im Geschäft hatte er manchmal schon seinen Stress. Meine Rolle war dann, trotz seiner Hektik möglichst Ruhe zu bewahren, zu beweisen, daß es doch noch ein frischgewaschenes Unterhemd gab, wenn es auch in die hinterste Ecke des Kleiderschrankes gerutscht war, aus der ich es ihm herausfischte, und wenig später lächelnd schnell zur Seite zu springen, wenn er im Volldampf durch die Tür sprintete, fragte „Brauchst du etwas?“ und auch schon im Auto saß, bevor mir eine Antwort über die Lippen gekommen wäre.
  Nun war es abends. Mein Mann stand in der Tür meines Zimmers, er mußte nochmal weg. „Brauchst du was?“ Er erschrak, als er mein Gesicht sah, die Tränen. „Wann bringst du mich endlich zu Um Mustafa, das ist doch im Auto ein Katzensprung.“ „Bitte, ich muß jetzt weg. Hab´ bloß noch heute Geduld, ja?“
  Als er zurückkam, brachte er eine Schachtel teuren Gebäcks mit. Die stellte ich den Kindern hin, rührte selbst nichts an und ging mein Nachtgebet beten. So einfach ließ ich mich nicht abspeisen. Nach dem Gebet beschloß ich, einen Großangriff zu starten. Da fühlte ich mich gleich viel besser.
  Ich ging ins Büro und machte ein böses Gesicht. Mein Mann hatte schon auf mich gewartet. Und auf das, was nun kommen würde... „Also, was gibt´s?“, fragte er. Dabei wußte er es wohl. Auch er war seit fünfzehn Jahren verheiratet. „Der beste von euch ist der, der am besten ist zu seiner Familie.“, hat der Prophet gesagt. Ich brauchte meinem Mann nicht vorzuhalten, daß er die Nähnadeln, deren Bedarf ich am Vortag zwischen Tür und Angel noch anzumelden geschafft hatte, vergessen hatte, und daß...
  Als wir jungverheiratet waren, war er fassungslos vor dergleichen Vorhaltungen gestanden – wie konnte so etwas der Grund sein, daß man in Tränen ausbrach? Irgendwann hatte er dann begriffen, daß eine Frau Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihrem Mann braucht, und konnte im Nachhinein schon erkennen, wenn es daran gefehlt hatte. Der Prophet hatte den Männern die Frauen ans Herz gelegt und dabei gesagt: "Die Frau ist aus einer Rippe geschaffen, und du kannst sie unmöglich geradebiegen. Du kannst nur dann Nutzen von ihr haben, wenn du sie gebogen läßt."  Das hatte ich, Gott sei Dank, von Anfang an nicht als Abwertung empfunden. Eine Rippe ist schließlich etwas sehr Wichtiges und Wertvolles: Sie bewahrt und beschützt das Herz! Und war dieses Wort des Propheten denn etwas anderes als eine Botschaft an die Männer: Laßt den Frauen ihre Weiblichkeit, nehmt sie so, wie sie sind! Denn wenn ihr von den Frauen männliche Rationalität verlangt, geht etwas sehr Kostbares verloren.

 „Also, was gibt´s?“, hatte mein Mann gefragt. Ich antwortete: „Du hast uns seit ungefähr vier Monaten versprochen, daß wir an den Nil fahren.“ „Och!“, stöhnte er, „da ist es doch heiß! Du weißt ja gar nicht, wie heiß es da ist!“ Ich meinte treffsicher: „Wenn wir gleich nach dem Morgengebet losfahren, ist es noch schön frisch.“ „Hm.“, meinte er. Er wußte, daß ein Opfer fällig war. Tatsächlich, er war bereit, auf sein freitagvormittägliches Ausschlafen zu verzichten und mit uns frühmorgens zum Nil zu fahren!
  Es paßte gut, alle Kinder waren früh eingeschlafen. „Da brauchen wir noch Proviant. Und Benzin.“  Daran hatte ich vor Freude gar nicht so schnell gedacht. Er griff nach dem Autoschlüssel. Nur in der Tür kam er noch kurz ins Schwanken... „So früh morgens gibt es wahrscheinlich kein Benzin... oder vielleicht doch?“ (...und wenn man es drauf ankommen ließe und es dann keines gäbe, wäre das ein guter Grund, doch zu hause zu bleiben, sich wieder ins Bett zu legen und doch noch auszuschlafen...) „Komm bloß nicht ohne Benzin nach hause!“, meinte ich schnell und tat ganz grimmig. Dann brachte er reichlich leckere Sachen mit, von Würstchen über Saft bis hin zu süßen Teilchen, und sagte: „Mach, daß du ins Bett kommst, daß du auch genug Schlaf kriegst!“
  Es wurde ein herrlicher Ausflug, der allen gut tat. Meinem Mann auch.


Durststrecke
oder: Stumpf wie ein Kartoffelsack
  Durststrecke. Ich las Koran, aber ich empfand nichts dabei. Das ist schlimm, wenn man Koran liest und dabei nichts empfindet. Das ist doch Gottes Wort, Seine letzte Offenbarung an die Menschheit, alles was hier steht, ist wahr. Und man muß sich fürchten, wenn von der Strafe Allahs die Rede ist, die ewig sein wird und unabwendlich, und freudig hoffen, wenn das Paradies genannt wird, das so unvorstellbar schön ist, daß es sich bei allem, wie Gott es uns beschreibt, kein Mensch jemals vorstellen kann. Aber mein Herz war so stumpf wie ein Kartoffelsack.
  Daß Gott nahe ist, weiß ich und bin mir da ganz sicher. Es steht ja im Koran. Aber ich – ich war irgendwie weit weg, hatte mich entfernt. Da hatte sich etwas zwischen mich geschoben und Allah, Sünden, die ich längst vergessen, vielleicht kaum wahrgenommen hatte, doch bei Gott waren sie aufgeschrieben. Ich habe doch eigentlich nichts Böses gemacht, dachte ich. Der Mensch ist ziemlich gut im Verdrängen, vor allem der eigenen Fehler.
  Ich sehnte mich nach dem Koran, danach, ihn mit dem Herzen hören zu dürfen. Es blieb mir verwehrt. Allah verteilt in Seiner Weisheit. Mühsam schlug ich mich durch die Sure „Hud“, die ich anderthalb Jahre zuvor auswendiggelernt hatte, wiederholte jeden Tag eine Seite, manchmal zwei. Doch, etwas von der Schönheit der Worte durfte ich doch fühlen, ein bißchen gewannen die Propheten, von denen berichtet wird, an Gestalt. Aber war sie nicht bedrückend, die sich wiederholende Geschichte der Glaubensverweigerung?
  Da hatte Gott in einem Volk nach dem anderen einen der ihren zum Propheten berufen. Er rief die Menschen auf, sich niemandem anderen als Gott zu unterwerfen, allen Irrglauben aufzugeben, kein Unrecht zu tun und darauf zu vertrauen, daß Gott sie versorgen würde. Der Prophet wollte für sein Volk nur Gutes und erwartete sich von ihnen keine Gegenleistung für seine Bemühungen. Doch die meisten Menschen wollten von dieser Botschaft nichts wissen sondern lieber an dem festhalten, was ihnen vertraut war, egal, ob es falsch war. Sie erklärten den Propheten zum Spinner und Lügner und wurden agressiv gegen ihn und die wenigen, die sich ihm anschlossen. Wenn auch jedes Volk seine eigene Geschichte hatte, im Prinzip war es immer das gleiche.
  Mir wurde bewußt – selbst wenn es mir gelingen sollte, In Gottes Sinne von Seinem letzten Propheten zu berichten, der an die gesamte Menschheit gesandt war in einer Zeit, in der die Botschaft die ganze Welt erreichen konnte - selbst wenn es mir gelingen sollte, die Menschen meiner Sprache zum Glauben an Ihn und zum Dienst an Ihm aufzurufen, mit dem was ich schrieb: Ich würde ausgelacht werden, sie würden sich über mich lustig machen, meine Worte ins Lächerliche ziehen und mich für verrückt erklären.
  Ich mußte aufhören, mir selbst etwas vorzumachen. Ich schaute genau hin und wurde mir bewußt: Beim Lesen im Koran – nicht beim Wiederholen des Auswendiggelernten – war ich noch fast an der gleichen Stelle wie vor mehr als einer Woche! Gut, ich hatte mich vor mir selbst entschuldigt und gesagt: Diese letzten Wochen der Schulferien will ich nützen, um die Kinder Koran zu unterrichten, da stelle ich sogar mein eigenes Lesen zurück. Natürlich, die Zeit war immer knapp. Aber ich hatte die Haushaltshilfe, die großen Mädchen halfen mit – warum konnte ich nicht jeden Tag einen der dreißig Koranabschnitte lesen wir früher? Und wenn ich mir das Koranlernen mit den Kindern  ehrlich betrachtete: Es war zu einer lustlosen Pflichtübung geworden. O Gott! Was wir in den Händen halten, ist doch Dein Wort! Ich erschrak vor mir selbst.

  Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich in einer Schule für afghanische Waisenmädchen in Nordpakistan erlebt, wie dort Koran unterrichtet wurde und war entsetzt. Wer es nicht konnte, bekam Tatzen. „Darf man den Koran denn mit Schlagen unterrichten?“, empörte ich mich. Ich liebte die afghanischen Mädchen so sehr, wie sie in der Frauenmoschee saßen, nach dem Gebet, in kleinen Grüppchen oder zu zweit, sich gegenseitig Koran abhörten. Sie liebten mich auch, sehr, obwohl ich ihnen nicht viel genutzt habe. Ich fungierte als Arabischlehrerin für die Erstklässler, sollte ihnen die arabische Schrift beibringen. Bloß, sie lernten nichts bei mir, weil ich keine Tatzen verteilte. Oder nur so sanfte, daß sie heimlich über mich lachten, wie ich dann später begriff. Doch sie liebten mich, und ich liebte sie. Und sie liebten die anderen Lehrerinnen, die die Tatzen austeilten, die richtigen Tatzen, nicht die sanften, auch sehr.
 
Wirklich wahr?
  Wie wahr ist unsere Wahrheit?
  Als kleines Mädchen war für mich unumstößlich wahr, was mein Vater sagte. Mein Vertrauen auf ihn war endlos. Einmal waren wir nachts unterwegs auf einsamer Strecke und hatten eine Autopanne. Ich spürte, daß meine Mutter Angst hatte und sagte zu ihr: „Hab keine Angst, Mama, der Papa ist doch da.“
  Bei uns zu hause gab es Nikolaus und Christkindle, und es wurde ganz stilvoll gefeiert. Aber keiner erwartete, daß wir, mein jüngerer Bruder und ich, das wirklich glauben sollten. Es war einfach nur schön, Familientradition.  Was mir mein Vater erklärte, und er erklärte mir seine Ansichten gern, und ich hörte gern zu, war vielmehr: Den lieben Gott, den gibt´s gar nicht, das haben die sich bloß ausgedacht, damit die Leute Angst haben und schön brav sind.
  Als ich dreizehn Jahre alt war, starb mein Mutter ganz plötzlich einen tragischen Tod. Sie hatte Selbstmord begangen. Alle waren geschockt. Ich stellte fest, daß die Erwachsenen sehr wenig wußten. Keiner wußte etwas Gescheites zu sagen. Das beste war noch das Wort des Pfarrers bei der Beerdigung, daß wir aus Erde geschaffen sind und wieder zu Erde werden. Das stimmte wenigstens.
  Später erlebte ich, daß manchmal Sachen wahr waren, es aber unmöglich war, sie anderen glaubhaft mitzuteilen.

  Auf meinem Schreibtisch lag ein kleines Buch mit Hadithen, Aussprüchen des Propheten. Mein Mann hatte es mir mitgebracht und so im Vorbeigehen auf den Tisch gelegt, wie das seine Art war. Und ich hatte es lange einfach liegen lassen, wie das so meine Art war, war ich doch hochbeschäftigt mit Kindern, Küche und meinem Koranprogramm.
  Ich liebte den Koran, da fühlte ich mich sicher. Daß da jeder Buchstabe an seinem Platz war, hatte ich begriffen, als ich den Koran auf Arabisch zu entziffern begann. Buchstabe um Buchstabe entzifferte ich ihn, las Vers um Vers erst auf Arabisch, dann in deutscher Übersetzung, damals in Granada, als wir frischverheiratet waren. Mein Mann hielt sich zurück, sagte nichts, wenn ich vergessen hatte, seine Kleider zu waschen, und ließ mich einfach machen. Er hatte sich eine Frau gewünscht, die dazulernen wollte, und als er mich nach der Eheschließung in seine Wohnung führte, die nun unsere sein würde und die er liebevoll hergerichtet hatte, stand da auch ein große Tafel, Kreide lag bereit. Aber als ich ihn mit komplizierten Fragen nach Grammatik und Phonetik löcherte und eine wissenschaftliche Antwort erwartete, begriff er, daß ich ihm keine gelehrige Schülerin sein würde und akzeptierte das einfach. Er tat so, als beachte er nicht groß, daß ich die kürzeren Suren auf Din-A-4-Blättern in die Küche hängte, um sie auswendig zu lernen, aber als ich einmal etwas falsch abgeschrieben hatte, machte er mich so ganz nebenbei darauf aufmerksam. Etwas erstaunt sah er zu, wenn ich frühmorgens nach dem Gebet mein Päckchen Karteikarten mit arabischen Vokabeln zückte. Später dann dekorierte ich unser  Schlafzimmer mit riesigen Plakaten, auf denen ich das beieindruckend systematisch funktonierende arabische Verbensystem aufgeschrieben hatte. Auch davon ließ er sich nicht beeinträchtigen. Er hatte mir eine Kassettensammlung geschenkt, in der jeder Koranvers erst auf Arabisch rezitiert, dann in englischer Übersetzung gesprochen wurde. Die hörte ich mir beim Tellerwaschen an.
  Die Beschäftigung mit dem Koran war es, die mich damals durchhalten ließ. Mein Mann und ich waren uns schrecklich fremd, hatten einfach einen zu unterschiedlichen Hintergrund. Daß wir uns auf Spanisch und Englisch verständigen mußten, was weder seine noch meine Muttersprache war, machte es auch nicht leichter. Unter den muslimischen Frauen in Granada, zum größeren Teil junge spanische Frauen, die konvertiert waren, und einige junge Marokkanerinnen, fühlte ich mich fremd. So sehr ich mich nach einem einfachen Leben gesehnt hatte - daß wir am Anfang nicht mal eine Waschmaschine hatten, kam mich schon hart an.
  Der Koran - ich liebte ihn einfach. Er war so schön, so wunderbar schön. Es gab keinen Zweifel, daß er absolut unverändert war, so wie er offenbart war. Der Koran ist Gottes Wort. Mit den Hadithen, den Aussprüchen des Propheten, tat ich mich da schwerer. Ohne sie ging es nicht, das war klar. Der liebe Gott hatte den Koran ja nicht einfach vom Himmel fallen lassen, sondern den Propheten gesandt, um ihn Stück für Stück zu verkünden. Da stand im Koran, daß wir das Gebet verrichten sollten, aber wie das nun aussehen sollte, hatte der Prophet den Menschen, die damals direkt von ihm lernen durften, vorgemacht.
  Die Hadithe nun schienen mir ein weites, unübersehbares Feld. Auch waren sie sprachlich viel schwieriger als der Koran, das war Menschenwort - das Wort eines Menschen aus einem anderen Volk zu einer anderen Zeit. Und ehrlich gesagt - ich war voll Mißtrauen: Wie weit konnte man sich darauf verlassen, daß das alles korrekt überliefert war? Hier fehlte das sprachliche Wunder, das beim Koran einfach ein klarer Beweis war, da konnte ich auf mein Gefühl für Sprache und Worte vertrauen. Und doch, manchmal staunte ich, wie schön auch die Sprache des Propheten war, knapp und bedeutungsvoll. Beruhigend war, als ich einigermaßen kapierte, wie sorgfältig und wirklich wissenschaftlich die Muslime bei der Überlieferung der Hadithe vorgegangen waren, doch, das war beeindruckend.
  Nun also diese kleine Hadithsammlung auf meinem Schreibtisch. Schon ein paar mal hatte man mir leise zu raten versucht, mich doch nicht so einseitig auf den Koran zu beschränken, aber mit einer gewissen Dickköpfigkeit und einem unverbesserlichen Perfektionsdrang hatte ich solche Ratschläge einfach außer Acht gelassen und mich weiter an meinen Koran gehalten. Also gut, aber, ich schlug das kleine Büchlein auf. Der erste Hadith war mir wohlbekannt, er behandelte die Geschichte der ersten Offenbarung. Ach, das kannte ich doch schon. Warum hatten sie ausgerechnet diesen Hadith an den Anfang gestellt? In der Küche wartete Arbeit... ich schlug das Büchlein wieder zu.
  Und doch - es ging mir nicht aus dem Kopf. Die Geschichte der ersten Offenbarung... natürlich, hier lag irgendwie der Kern unseres Glaubens, daß das wirklich passiert ist, daß Gott sich einem Menschen offenbart, ihm Sein Wort eingegeben hat. Glaubte ich das wirklich? Aber ja, mit Sicherheit, der Koran lag doch in unseren Händen, und so was gab es nicht nochmal, das war absolut einmalig. Zwar gab es zur Zeit des Propheten wohl einige andere Araber, die auf die Idee kamen, es ihm einfach nachzumachen, behaupteten, auch sie seien zu Propheten berufen, dachten wohl, das sei eine schlaue Masche. Was sie sprachlich als Offenbarung verkaufen wollten, war schlicht und einfach lächerlich. Nie hat es jemand geschafft, auch nur eine einzige Sure zu produzieren, die dem Koran gleichkäme, obwohl die kürzeste Sure nicht einmal drei Zeilen lang ist. Wie blödsinnig das Argument, nein, die Behauptung, es sei halt einfach verboten gewesen, den Koran nachzumachen, wie ich es einmal irgendwo gelesen hatte. Als wenn sich so etwas hätte verbieten lassen!
  Ich versuchte, mir das wirklich vorzustellen mit der ersten Offenbarung, wie war das für den Propheten gewesen? Die Art der Araber, etwas zu berichten, unterscheidet sich sehr von der unseren, das war mir im Laufe meiner Ehe aufgegangen. Ich hatte oft das Gefühl, daß die Hälfte fehlte, wenn mir mein Mann etwas erzählte, während er fand, das sei doch ganz klar, das ergäbe sich doch aus dem Zusammenhang. Um mir wirklich vorstellen zu können, wie der Prophet die erste Offenbarung erlebt hatte, mußte ich das schon auf Deutsch tun, aber ich mußte vorsichtig sein. Ich durfte die fehlende Hälfte nicht einfach erfinden. Gott sei dank gab es mehrere Hadithe darüber, die einander ergänzten. Die studierte ich nun sorgfältig, um mir nach bestem Wissen und Gewissen mein Bild, mein deutsches Bild zu machen.

...im Namen deines Herrn, Der geschaffen hat...
 Der Prophet irrte durch die unwirtlichen, kargen Felsberge Mekkas. Er wollte seinem Leiden ein Ende bereiten, sich aus der Höhe in den Abgrund stürzen...
  Es waren nicht Zweifel über das, was er erlebt hatte, die ihn quälten. Klar und unauslöschlich waren jene Worte in sein Herz geschrieben, die anders waren als alles, was er je zuvor gehört oder gesagt hatte:
  Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
  den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
  Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
  Der gelehrt hat mit dem Stift.
  den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
...diese Worte, die kein Menschenwort waren... Wie hatte er sich gewehrt, sie anzunehmen! Der Engel hatte ihm befohlen: „Lies!“, er hatte sich widersetzt: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf hatte der Engel ihn so gepresst, daß er gedacht hatte, sein Ende sei gekommen. Ein zweites Mal der Befehl: „Lies!“ und sein Widerstand: „Ich kann nicht lesen.“ Wieder preßte ihn der Engel in aller Heftigkeit. Und ein drittes Mal der Befehl: „Lies!“  Da hatte er den Widerstand aufgegeben, sich ergeben und gefragt: „Was soll ich lesen?“
Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat,
  den Menschen erschaffen hat aus einem anhaftenden Blutgebilde.
  Lies! Und dein Herr ist der höchst edelmütige,
  Der gelehrt hat mit dem Stift.
  den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte.
  Als der Engel ihn verlassen hatte, klopfte sein Herz so stark, daß es ihm die Brust zu zersprengen drohte. Das unerwartete Erlebnis hatte ihn mit Furcht erfüllt. Erst allmählich war die Furcht gewichen, trat an ihre Stelle nun Sehnsucht, ein Verlangen nach einem neuen Zeichen von seinem Herrn, Dem Edelsten, Der geschaffen hatte..., gelehrt hatte...Doch die Tage vergingen, und es geschah nichts.
  Der Prophet irrte durch die kargen, unwirtlichen Berge Mekkas. Er suchte die Einsamkeit in der Hoffnung auf eine neue Offenbarung... Hatte sein Herr ihn verlassen?  Die Sonne glühte über den harten Steinen der Felsenlandschaft – nichts. Tage vergingen. Die Stille, die Leere waren nicht mehr zu ertragen...er würde sich in einen Abgrund stürzen...
  Da hörte er eine Stimme vom Himmel und hob den Blick. Am Horizont saß der Engel, der ihm in der Höhle Hira erschienen war, auf einem Thron: „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Der Prophet vergaß, daß er vorgehabt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wie angewurzelt stand er da. Wohin er auch schaute, sah er den Engel vor sich. Es war ein gewaltiger Anblick. „Wahrlich, du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.“ Als der Engel verschwunden war, stand der Prophet unverändert an derselben Stelle. Die Worte des Engels waren keine neue Offenbarung von Koran. Sie bestätigten dem Propheten, was er bereits sicher wußte, ohne jeden Zweifel. Und sie halfen ihm, auszuharren, durchzuhalten...
  Die zweite Offenbarung empfing der Prophet nicht in der Einsamkeit der Felsenberge Mekkas. Ausgestreckt auf seiner Schlafstätte, zugedeckt mit einer Decke nahm er diesmal bereitwillig die Worte auf, die ihm der Engel Gabriel überbrachte:
 Du, der du dich zugedeckt hast,
  Stehe auf und warne!
  Verherrliche Deinen Herrn,
  Reinige deine Gewänder,
  Halte dich fern von allem Unreinen,
 erwarte keine Gegenleistung,
 Und um Deines Herrn willen harre geduldig aus.


Vorhaltungen und Beschimpfungen
  (Dienstag)
  Eine Mischung aus Panik und Wut stiegen in mir auf, und ich begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln. Irgendwie mußte das doch hier alles zum Funktionieren kommen, oder? Irgendwie? In mir sagte etwas: Aber so nicht.
  Es war der erste Schultag. Alle waren ganz aus dem Häuschen, schon zu nachtschlafenden Zeiten mit dem Morgengebet aufgewacht, sogar die Kleinen. Bei allen war da wohl eine Mischung aus Aufregung und Ängsten gewesen. Auch bei mir, bloß, man unterdrückt das, will es gar nicht hochkommen lassen. Bis es sich dann als Steinhagel seinen Weg sucht...
  (Mittwoch)
  Da stand nun auf meinem Papier, was am Vortag war: „...begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln...“  Gut so - da konnte ich es nicht so leicht vergessen. Bei Allah stand es ja auf jeden Fall aufgeschrieben.
  Es war höchste Zeit, etwas nachzudenken. Es genügte nicht, daß es mir leid tat, daß ich so gemein gewesen war. Auch nicht, Allah zu bitten, es mir zu verzeihen. Wir alle gehören doch Ihm, meine Kinder sind mir anvertraut von Ihm. Vielmehr sollte es ja auch nicht wieder vorkommen. Und ich müßte eigentlich wiedergutmachen, was ich da angerichtet hatte. Kinder sind so weich und zart. Was sie erleben, prägt sich ein, prägt sie. Doch, Nachdenken war angesagt, dringend.
  „Jeder von euch ist ein Hirte, und jeder von euch wird einst nach dem gefragt werden, was er zu hüten hatte...“, hat der Prophet gesagt.
  Wie ging der Prophet mit Kindern um? Seinen Sohn Ibrahim, der dann noch im Säuglingsalter sterben sollte, pflegte er in die Arme zu nehmen, an sich zu drücken und zu küssen. Sein Enkeltöchterchen Amama durfte auf seinen Schultern reiten, während er im Gebet stand. Um sich zu beugen und niederzuwerfen, setzte er sie sanft ab. Er besuchte seine Tochter Fatima, um nach seinem Enkelsohn zu fragen. Wenn der ihm dann entgegenlief, nahm er ihn in die Arme, drückte ihn an sich  und sagte: „Bei Allah, ich liebe ihn und alle, die ihn lieben.“ Er spielte mit seiner kleinen Stieftochter Seinab, wobei  er sie mit einem Kosenamen rief.
  Als sein Stiefsohn Omar seine Hand in der Schüssel wandern ließ, aus der gemeinsam gegessen wurde, erklärte er ihm, wie er sich beim Essen benehmen sollte: „Mein Junge, sag `bismillah`, iß mit der Rechten und iß, was vor dir ist.“ Seinen kleinen Kousin Abdullah ließ er mitaufsitzen, als er auf seinem Reittier ritt, und lehrte ihn bei dieser Gelegenheit: „Mein Junge, ich bringe dir einige Worte bei: Achte auf Allah, dann achtet Er auf dich. ... Wenn du bittest, dann bitte Allah, wenn du um Hilfe bittest, dann bitte Allah um Hilfe. Und du mußt wissen: Wenn sich die ganze Menschheit zusammentut, um dir zu nutzen, so werden sie dir nichts nutzen, außer was Allah dir bereits bestimmt hat. Und wenn sich die ganze Menschheit zusammentut, um dir zu schaden, so werden sie dir keinen Schaden zufügen, außer was Allah dir bereits bestimmt hat...“
  (Donnerstag)
  Und mein Papier lag immer noch auf dem Schreibtisch.
„...begann, mit meinen Kindern herumzuschreien. Einen knallharten Steinhagel von Vorhaltungen und Beschimpfungen ließ ich auf sie niederprasseln...“
  Der Prophet hat davor gewarnt, die eigenen Sünden zu leicht zu nehmen, denn dann sammeln sie sich an, bis sie einen Menschen zugrunderichten. Er hat auch gesagt: „Handle nicht in Wut, dann erlangst du das Paradies.“
  Die Schreckensvision von mißratenen Kindern, sich für seine Kinder schämen zu müssen, von ihnen enttäuscht zu werden...
  Ich wußte eigentlich, daß es nicht in meiner Hand lag, was aus meinen Kindern einmal würde. Das Meine beizutragen war, was anstand. „Und der Sieg kommt allein von  Allah.“, steht im Koran. Sieg steht auch für Erfolg. In Demut dankbar sein für wohlgeratene, vorzeigbare Kinder, die für die Umwelt eine Bereicherung sind, nicht eine Last... in Demut dankbar, nicht stolz... „Nichts wird uns treffen als das, was Allah für uns bestimmt hat...“  Kein Platz für Panik also. Das Meine beitragen... „Jeder von euch ist ein Hirte, und jeder von euch wird einst nach dem gefragt werden, was er zu hüten hatte...“ Kinder brauchen Festigkeit und Barmherzigkeit, eine Mutter, die sie liebevoll und bestimmt leitet, anleitet, die Ruhe behält und den Überblick.
 (Freitag)
  Wiedergutmachungsversuche. Mir endlich mal Zeit genommen nachzusehen, was mit der Nähmaschine los war. Die Mädchen wollten schon lange nähen. Zwar konnte ich die Maschine dann nicht zum Laufen bringen, aber auch die Absicht plus Bemühung zählen bei Allah. Fatima ein Stück von meinem Schokoladerriegel abgegeben (Es hätte größer sein dürfen.).  Endlich wieder mit Chadidscha Französisch gelernt, sie wartete schon seit Tagen drauf.
   Mit Abudi einen Nachmittag lang Nußhörnchen gebacken. Es ergab sich so, er fragte, ob er mir helfen dürfe. Und dann genoß er es, mich mal für sich zu haben. Gott sei´s gedankt. Die Jüngeren waren alle im hinteren Hof beschäftigt, buddelten im Sand und spielten mit Katzen und Ziegen, Chadidscha und Fatima waren in ihrem Zimmer verschwunden. Wirklich, dankeschön, lieber Gott, daß das so ein schöner Nachmittag wurde, kaum zu glauben.
  Nachdenken über Abdullah... Es war so schwierig mit ihm. Vielleicht, weil er der älteste Sohn war? Mir gegenüber brachte er eigentlich immer nur seine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Wenn ich´s mir recht überlegte, beruhte das wohl auf Gegenseitigkeit – kaum kriegte ich ihn zu fassen, fing ich an: „Hast du schon...? Abdullah, dein Schlafanzug liegt noch...“ usw. Seine Hitzköpfigkeit, Wildheit, laute Stimme machten mir zu schaffen. Wenn er doch ein bißchen vernünftiger wäre. Oft dachte er sich den allerschlimmsten Blödsinn aus. Dann hielt ich ihm vor, daß er als der älteste Junge doch eigentlich ein Vorbild für die Jüngeren sein müßte. Außerdem fühlte er sich immer benachteiligt und ungerecht behandelt. Die großen Mädchen tricksten ihn aus, ärgerten ihn, bis er vor Wut jedes Maß verlor und dann er es war, der Schimpfe und Strafe bekam. Eine Zeitlang hatte ich das nicht durchschaut, obwohl ich doch selbst mal die ältere Schwester eines jüngeren Bruders war... Und seine jüngeren Geschwister waren eine Plage, nahmen ihm seine Mutter weg, kriegten die Zärtlichkeit, die er gern für sich allein gehabt hätte...
  Weiter Wiedergutmachungsversuche. Ich erzählte Ibrahim, wie mich als kleines Mädchen bei den Ferien auf dem Bauernhof die Ziege in den Finger gebissen hatte und ich dann ganz empört war, hatte ich ihr doch etwas zu Fressen gebracht! Da wollte er gleich noch mehr haben, eine Geschichte vom Bär und vom Hasen – die hatte ich ihm mal vor langer Zeit erzählt, daß er sich da noch erinnerte! Als ich dafür dann aber keine Zeit mehr hatte, stimmte er sein schrilles Protestgeschrei an. Gott sei´s gedankt, daß wir nicht in Deutschland in einer Mietskaserne lebten... Er bekam diesmal keinen Klaps dafür, der sowieso nichts genützt hätte, sondern ich ließ ihn einfach schreien. Erstaunlich bald war er dann von alleine still. Etwas später kam er an  und meinte, ob ein Stier wohl Eier lege? Nein? Gut, dann sei er halt ein Huhn, ob er mein Huhn sein dürfe? Okay, meinte ich großzügig. Die Plastikbausteine waren die Eier. Zweierlei Eier würde er legen. (Es gab zweierlei Bausteine.) Da könne ich ja dann für alle Karamelpudding draus kochen. Okay. Die Idee mit dem Stier gefiel ihm aber doch zu gut. Ob der Stier Fleisch frißt. Nein, Ibrahim, der Stier ist zwar ganz gefährlich, weil er jemanden mit seinen Hörnern schlimm verletzen kann. Aber er frißt nur Gras.... Frißt er nicht mal Insekten? Nein.. Also, ich bin halt ein Stier, der Eier legt... liebevoll blickte er auf die Plastikbausteine... geht das? Also gut.
  (Samstag)
  Gott sei Dank. Mein knapp siebenjähriger Sohn Hamudi hatte so etwas wie eine Sprachbehinderung. Manchmal konnte er einfach nicht aufnehmen, was er gesagt bekam. Und manchmal konnte er einfach nicht artikulieren, dann kam nur Matsch aus seinem Mund raus. Noch in Deutschland hatten wir sein Gehör gründlich untersuchen lassen und dachten deshalb,  daran läge es nicht. Zwar hatte die sehr junge Ärztin etwas unsicher gewirkt, aber die technische Ausstattung in einer renommierten Kinderklinik in München war zu beieindruckend gewesen, als daß wir auf die Idee gekommen wären, daß die Diagnose ganz einfach falsch war und der Junge eben doch ein Hörgerät gebraucht hätte. Das sollte sich dann leider erst viele Jahre später herausstellen, als in seiner sprachlichen, schulischen und sozialen Entwicklung natürlich viel verpaßt war.
  Doch das wußte ich noch nicht. Ich trug es mit Fassung, daß es im Sudan natürlich keine logopädische Behandlung gab, wie ich sie mir für meinen Sohn gewünscht hätte. In den Ferien, das hieß, in den vergangenen vier Monaten, denn aufgrund des Klimas dauern die Schulferien im Sudan so lange,  hatte ich mit ihm gründlich Koran geübt. Ich war tief im Herzen überzeugt, daß das die beste Therapie war. Buchstaben um Buchstaben hatte er sich erkämpft. Es war sehr erstaunlich: Wenn er einmal begriffen hatte, wie ein Wort ausgesprochen wurde, vergaß er es nicht mehr.  Er machte gewaltige Fortschritte. Auch sein Sprechen im Alltag war klar und viel besser geworden. Aber mit der Aufregung um den Schulanfang hatte er plötzlich einen schlimmen Rückfall. Da kam wieder dieses gequälte „Häh?“, wenn er einfach nicht aufnehmen konnte, was er gesagt bekam. Und diese Hilflosigkeit, wenn er dastand, etwas sagen wollte und es einfach nicht ging. Es tat weh, das ansehen zu müssen. Das war auch einer der Auslöser des Steinhagels gewesen. So schnell hatte ich das nicht durchschaut. – Elhamdulillah, Gott sei Dank. Inzwischen war dieser Rückfall vorbei.
  Ich war immer noch am Nachdenken und Bereuen. In diesem Schuljahr sollte alles besser werden. Ich wollte die Kinder besser bei den Hausaufgaben betreuen, sorgsamer auf ordentliche Schultaschen und –kleidung achten, genau hinhören bei allem, was sie zu erzählen hatten.
  Mir war bewußt geworden, daß ich auf Safia aufpassen mußte. Sie war ruhig, forderte mich wenig, lief halt so mit. Das mochte zum einen ihr Charakter sein. Ich dachte mir aber, es lag auch daran, daß sie ein Mädchen war, das einen älteren Bruder, einen Zwillingsbruder und noch zwei jüngere Brüder hatte.
  Kurz bevor ich Muslim wurde, hatte ich eine interessante Studie über Gesprächsverhalten gelesen. Das Gesprächsverhalten von Männern und Frauen unterscheidet sich sehr. Und es konnte auch nachgewiesen werden, daß in einer gemischten Klasse Jungen etwa zwei Drittel der Aufmerksamkeit der Lehrkraft bekommen, Mädchen das restliche Drittel. Jungen sind einfach fordernder. Mädchen geben sich leichter zufrieden und lassen sich leichter dahin kriegen, wo man sie haben will. Das war damals noch eine kräftige Erschütterung meines Glaubens daran, daß Männer und Frauen gleich seien. Und vor diesem Hintergrund leuchtete mir auch völlig ein, was der Prophet gesagt hat: „Gebt all euren Kindern gleich viel. Solltet ihr aber jemanden von ihnen vorziehen, dann die Mädchen.“
  So bekam Safia nun fast meinen ganzen Nachmittag. Ich setzte mich neben sie und ließ sie die Rechenaufgaben nochmal machen, die im Heft quer über die Seite purzelten und stolperten, abgesehen davon, daß sie zum Teil falsch gelöst waren. Um den Platz für jede einzelne Ziffer kämpften wir gemeinsam, daß auch jede in ihr richtiges Kästchen kam. Sie war eifrig dabei, hatte mehr Geduld als ich. Nebenbei mußte ich ankämpfen gegen Ibrahims Eifersucht, und Musa, der gestillt werden wollte, vielleicht auch aus Eifersucht. Ibrahim zerrupfte aus Wut darüber, daß es ihm nicht gelang, meine Aufmerksamkeit von Safia auf sich abzulenken, sein neues Malheft. Als das und anderes Theater nichts halfen, begann er schließlich schön artig, Alifs auf ein Blatt des zerrupften Malheftes zu schreiben und war dann auch ganz zufrieden mit sich und mit meinem knapp gehaltenen Lob. Elhamdulillah. Ich hielt durch, bis Safias Rechenheftseite fertig war und wir den Gebetsruf zum Abendgebet hörten. Als ich die Hände hob und mit „Allahu akbar – Gott ist größer!“ mein Gebet begann, fühlte ich, wie anstrengend es für mich gewesen war. Ich hoffte, Allah nahm es von mir an.

Also nehmt ihn euch zum Feind
  Ich merkte nichts. Das war schlecht.
  Die Haushaltshilfe – sie hieß Fatima wie meine zweite Tochter, das sorgte für Verwirrung – saß auf dem niedrigen Hocker, auf dem sudanesische Frauen den größten Teil ihrer Hausarbeit verrichten, und wusch von Hand die Schulkleider der Kinder heraus. „Prima“, dachte ich. Ich hätte lieber „Gott sei Dank“ denken sollen, vielleicht hätte ich dann etwas gemerkt.
  Sie hatte die Waschmaschine mit Wasser gefüllt, obwohl seit dem frühen Morgen kein Strom da war und sie bestimmt nicht mehr waschen würde, weil ihre Arbeitszeit fast zu Ende war. Sie erklärte mir, daß inzwischen Wasser aus der Leitung käme, wenn auch schwach. Sie lasse es aus dem Schlauch in den Eimer neben ihr laufen. Wenn der Eimer voll sei, kippe sie ihn in die Wassertonne, um sie so allmählich zu füllen. Wenn man den Schlauch direkt zur Tonne lege, liefe kein Wasser, da die Tonne zu hoch war und der Wasserdruck zu schwach. „Aha“, sagte ich. Das war neu, sie machte das zum ersten Mal so. Ich sagte nicht: „Möge Allah es dir vergelten.“
  Ein bißchen was merkte ich doch. Als ich sie etwas später immer noch beim Wäschewaschen und Wassersammeln sitzen sah, meinte ich, das sei doch nicht nötig, daß sie das Wasser so mühsam sammelte. Daß die Wassertonnen oben auf dem Dach noch mindestens teilweise voll waren, sagte ich nicht, aber sie wußte es natürlich, und ich wußte, daß sie es wußte. Ich sagte, ich hätte doch nur etwas über den hohen Wasserverbrauch am Morgen gesagt, weil ich Angst gehabt hätte, das Wasser würde dann nicht mehr ausreichen, um die Schulkleider zu waschen (was dann bedeutet hätte, daß ich sie hätte abends waschen müssen, wenn es wieder Wasser geben würde, worauf ich natürlich überhaupt keine Lust hatte.) Fatima ließ sich nicht beirren,  wusch und sammelte Wasser.
  Als sie dann in der Küche stand – es war spät geworden – und die letzten Teller spülte, sagte sie, sie käme am nächsten Tag nicht, und dann erst wieder am Samstag. Dann sagte sie irgendetwas Halbverständliches, das auch gar nicht ganz verstanden sein wollte, von wegen ihrer Mutter, sie hinbringen für die Operation. „Ach?!“ Nun war ich aber überrascht.
  Seit Fatima anfing, bei mir zu arbeiten, sprach sie von der Augenoperation für ihre Mutter. Sie und ihre Mutter waren dazu aus der weitentfernten kleinen Provinzstadt Nuhud nach Khartum gekommen, lebten hier bei Fatimas Bruder, und Fatima arbeitete, um das für die Operation erforderliche Geld zu verdienen.
  Eigentlich war die Operation auf den Vortag, den Montag, angesetzt gewesen. Deshalb war Fatima am Vortag nicht gekommen,  und ich hatte sie an diesem Tag gar nicht erwartet. Als sie dann mit der üblichen, aber verständlichen Verspätung relativ früh um dreiviertel neun plötzlich doch dastand, war die Küche schon halb sauber gewesen. Die Operation sei auf Donnerstag verschoben worden, am Vortag hätte sie die Mutter nur anmelden und die Gebühr bezahlen können. Deshalb sei sie nun extra recht früh gekommen.
  Gut, die zweite Hälfte des Geschirrspülens war noch zu erledigen, und auch sonst gab es genug Arbeit: Drei Innenhöfe wollten gefegt, die Pflanzen gegossen, das Wasser in den Vogelkäfigen gewechselt und drei große Dielen gefegt und gewischt werden. Nicht zu vergessen die zwei Badezimmer. Eigentlich wäre an diesem Tag auch Waschtag gewesen, doch da der Strom fehlte, schob ich das auf. Leichten Herzens, dachte ich doch, sie würde am nächsten Tag, dem Mittwoch, kommen..
  Ich hatte das Wasser abgedreht, das von den Tonnen auf dem Dach in die Leitungen des Hauses lief. So würde ich trotz des Stromausfalls auf jeden Fall noch eine Wasserreserve haben. Fatima konnte für ihre Arbeit Wasser aus der Wassertonne, die unten stand, schöpfen. Das war doch kein Problem für sie, lebte sie ja in einem Vorort, in dem es gar kein fließendes Wasser gab.
  Musa war sehr unglücklich, seit die Kinder wieder  in die Schule gingen. Er schlief, und nachdem ich noch schnell mit Chadidscha ein Frühstück für meinen Mann und seinen Gast gerichtet und auch selbst noch gefrühstückt hatte, beschloß ich, mich einfach auch hinzulegen, obwohl es noch recht früh am Vormittag war. Seit Tagen hatte ich Übermüdung angesammelt, außerdem war das Klima in diesen Tagen sehr anstrengend, sehr heiß und etwas schwül. Tatsächlich schlief ich, bis mich Chadidscha weckte, weil die Kinder gekommen waren.
  Die Dielen waren gewischt, die Innenhöfe gefegt, sicher hatte Fatima auch die Pflanzen zuverlässig gegossen und die Wasserschalen der Vögel geputzt und neu gefüllt. Ich nahm das selbstverständlich und kümmerte mich erstmal um die Kinder. Da ich volle zwei Stunden geschlafen hatte, hatte ich natürlich kein Mittagessen für die Kinder bereit.  Ich hätte das geplante Gericht auch gar nicht zubereiten können, weil der Strom immer noch nicht wieder da war, und also der Backofen nicht benutzbar war. Schnell ein paar Rühreier für die Kinder. Sie waren nicht mehr so aufgeregt wie die Tage zuvor. Allmählich schienen sie sich dran gewöhnt zu haben, daß wieder Schule war.
  Im Vorbeigehen hatte ich gesehen , daß die Wassertonne unten fast leer war. Das war aber erstaunlich. Wo war das ganze Wasser geblieben? Drei Dielen wischen  braucht drei Eimer Wasser, einen Teil der Pflanzen hatten wir zum Teil noch mit dem Schlauch gießen können, bevor der Strom weg war und Fatima kam. Kaum Geschirr... Also, ich konnte mir das nicht erklären und fragte Fatima, wo denn das ganze Wasser geblieben sei. Chadidscha meinte schnell, sie hätte mindestens drei Eimer ins Klo gekippt... Ja, aber trotzdem...
  Dann nahmen mich die Kinder wieder in Beschlag. Später wisperte ein Teufel: „Vielleicht hat sie ja absichtlich viel Wasser verbraucht, damit am Schluß keines mehr da ist und sie die Schulkleider nicht zu waschen braucht!“ Ich war nicht auf der Hut und merkte nichts.  „Wahrlich, der Teufel ist euch ein Feind, also nehmt ihn euch zum Feind...“, warnt uns Allah ...
    Ich aber merkte nichts, genoß, daß ich so herrlich ausgeschlafen war, die Kinder friedlicher und weniger aufgedreht waren als die Tage zuvor und ich ihre Energie ohne Schwierigkeiten in vernünftige Bahnen lenken  konnte. Ich fragte Fatima gleich nochmal, wo denn bloß das ganze Wasser geblieben sei. Das war nicht schön, das hätte ich nicht tun sollen.
  Es wird berichtet, daß der Prophet seinen Diener, der ihm jahrelang diente, kein einziges Mal gefragt hat: „Warum hast du das gemacht?“ oder „Warum hast du das nicht gemacht?“ Nun... das war der Prophet... wir sollen ihn uns zum Vorbild nehmen...
  Mein Mann kam relativ früh nach hause. O Gott! Ich hatte kein Mittagessen für ihn. Er hatte schon zum Frühstück Rühreier gegessen. Ob er vielleicht erst mal ein bißchen Käse essen könne, fragte ich vorsichtig. Ma scha Allah, es war Allahs Wille. Obwohl wir in diesen Tagen nur so aneinander vorbeirasten – ich voll beschäftigt mit dem Schulanfang, bei ihm ging´s grad im Geschäft hoch her – hatten wir einen guten Draht zueinander. Er würde auf das Mittagessen warten, meinte er, redete ein bißchen mit den Kindern, betete sein Gebet und legte sich hin. Gott sei Dank. –
  Fatima war mit ihrer Arbeit fertig. Als sich das Hoftor hinter ihr schloß und sie sich für eine große Tüte trockenen Brotes ganz gegen ihre Gewohnheit nicht überschwenglich bedankt hatte, ich dastand mit der unsinnigerweise wassergefüllten Waschmaschine und der auch schon wieder fast gefüllten Wassertonne, merkte ich endlich was.
  „Ein angemessenes Wort und Nachsicht sind besser als ein Almosen, dem Verletzendes nachfolgt...“  Ein angemessenes Wort war wohl fällig, wenn sie am Samstag in scha Allah käme. Bis dahin konnte ich ja schon mal Gott für sie bitten – um Kinder, die sie sich sicher wünschte, darum, daß die Operation ihrer Mutter gutgehen würde...
  Fatima kam am Samstag nicht, sondern am Sonntag. Als wir uns zur Begrüßung die Hand gaben, ließ sie die ihre in der meinen ruhen und zog sie nicht zurück. Da zog auch ich meine Hand nicht zurück und dachte an den Propheten, der seine Hand immer in der Hand des anderen ruhen ließ, bis der andere sie zurückzog. Ob Fatima das auch wußte, ob sie in diesem Moment auch daran dachte? Sie hob an sich dafür zu entschuldigen, daß sie am Vortag nicht gekommen war, aber das brauchte sie nicht. Die Operation ihrer Mutter war erfolgreich verlaufen, tatsächlich konnte die alte Frau wieder sehen, nachdem sie seit zwei Jahren blind gewesen war.

Szenen rund um den Computer
  Ich traute meinem Laptop nicht mehr so ganz und hatte angefangen, alle Texte lieber gleich auszudrucken. Das Speichern auf Diskette funktionierte nicht mehr, und auch sonst zeigte der kleine Computer immer mehr Macken.
  Als ich ihn das letzte Mal benutzt hatte, verlangte er, ich solle ihn ans Stromnetz anschließen, weil die Batterie schwach geworden sei. Dabei war er doch ans Stromnetz angeschlossen! Dann war er mir eingefroren. Nun wollte ich wissen, was Sache war, meinen Text ausdrucken und so in Sicherheit bringen. Ich drückte auf „On“ – nichts. Einfach gar nichts.  La haula we la quwwata illa billah. Keine Macht noch Kraft außer Allah. Oder anders ausgedrückt: Es geschieht nur ganz genau das, was Gott will und bestimmt hat. Und: Wir gehören Allah, und zu Ihm kehren wir zurück. Durfte das wahr sein? Daß mein Schreiben wieder der Technik zum Opfer gefallen war wie schon alles, was ich in der Zeit des Krieges der USA gegen Afghanistan geschrieben hatte? Damals war mir durch eine Unregelmäßigkeit in der Stromversorgung ein Laptop durchgebrannt, das blödsinnigerweise, aber weil Allah es so bestimmt hatte, und Allah macht, was Er will, - eingesteckt gewesen war, ohne Transformator... Ich hatte damals alle meine Texte nur im Gedächtnis des Computers gehabt, keine Diskette angelegt, nichts ausgedruckt...  Also wieder... Mein schöner letzter Text! Es waren ja bloß zwei, drei Seiten, aber sie waren mir so wichtig...
  Ich versuchte, technisch zu denken. Die Stromversorgung vom Netz her schien nicht mehr zu funktionieren. Deshalb wohl hatte er bei der letzten Benutzung um eine neue Batterie gebettelt. Eine neue Batterie mußte her, auf jeden Fall. Ich dachte daran, meinen Mann anzurufen. Zum einen einfach, um ihm erzählen zu können, was Schreckliches passiert war. Danach war es mir sehr zumute, ihm das zu erzählen. Und ob es ihm zum anderen nicht vielleicht möglich sein würde, auf dem Heimweg die erforderliche Batterie zu besorgen?
  Ich dachte an meinen Mann. Er war zum Mittagessen ganz kurz dagewesen, dann gleich wieder gegangen. Er hatte ein neues Stellgelände angemietet und ließ eine Markise als Überdachung für die Autos anbringen. Das Klima war seit ein paar Tagen mörderisch – ich hatte ganz vergessen, daß es so schlimm sein konnte. Wenn der Strom weg war, Ventilatoren und Wasserkühler still standen, streckte ich, schweißgebadet, nur noch alle Viere von mir, was überhaupt nicht meine Art war. Das war zuhause. Mein Mann arbeitete unter freiem Himmel, unter der glühenden Sonne, und wie ich ihn kannte, legte er bestimmt selbst kräftig mit Hand an.
  Mir fiel die Geschichte von Umm Suleim ein. Ihr Mann war nicht zuhause, als ihr kleiner Sohn Umeir starb. Sie wusch das tote Kind und hüllte es in ein weißes Tuch. Dann schärfte sie den übrigen Mitgliedern der Familie ein, ihrem Mann nichts zu sagen, bis sie ihm selbst vom Tod des Kindes erzählen würde. Als er nach hause kam, hatte sie sich hübsch zurechtgemacht und servierte ihm das Abendessen. Auf die Frage nach seinem Sohn, der wohl vorher schon krank gewesen war, antwortete sie ihrem Mann: „Er ist jetzt ruhiger als zuvor.“ Als dann ihr Mann nicht nur satt, sondern auch in anderer Hinsicht befriedigt war, sagte sie zu ihm: „Was meinst du, wenn jemand sich etwas ausgeliehen hat, muß er es dann nicht zurückgeben?“ Ihr Mann meinte: „Aber sicher.“ Nun erzählte sie ihm, daß sein Sohn gestorben war. Da wurde ihr Mann böse, stand auf, ging zum Propheten und erzählte ihm, wie sich seine Frau verhalten hatte. Der Prophet sagte daraufhin: „Allah hat eure gemeinsame Nacht gesegnet.“  Und Umm Suleim war schwanger geworden und gebar daraufhin ihren Sohn Abdullah. Der hatte dann seinerseits neun Söhne, die alle hochgebildet waren und den gesamten Koran auswendig lernten.
  Ich beschloß, meinen Mann nicht anzurufen.
  Als er nach hause kam, polterte er als erstes mal los. Er hatte das Hoftor offenstehend angetroffen, und es war bereits nacht. Er hatte Angst um uns. Ich hatte mich nicht hübsch zurechtgemacht , und mir tat der Rücken weh. Er sah mir auch gleich an, daß es mir nicht so toll ging. Ich merkte, daß er es merkte und gleich nur noch ein bißchen zu ende polterte.
  „Hat alles keinen Wert, ich sag´s ihm lieber,“ dachte ich und erzählte vom Totalstreik des Computers. „Kann ja gar nicht sein,“ meinte er und setzte sich gleich in Richtung Büro in Bewegung. Er drückte auf die „on“-Taste – nichts. „Ich habe Kopfweh,“ sagte er. Drückte hier und da auf die Tastatur, überlegte. Ich meinte vorsichtig etwas von vielleicht einer neuen Batterie. Er meinte: „Du träumst wohl! Die gibt´s vielleicht in Amerika, hier gibt´s ja nicht mal Autoersatzteile!“ (Er handelte mit letzteren.) Dann dachte er noch mal scharf nach. Er drehte das Laptop um und holte die Batterie heraus. Ein Mordsding, so groß hatte ich mir das nicht vorgestellt.
  Dann versuchte er es nochmal, und – gelobt sei Allah! – es funktionierte! Ohne Batterie funktionierte alles ganz normal. Mein Text... Er spannte mich noch ein bißchen auf die Folter, räumte hier und da im Computer herum, bis er mir meinen Text ausdruckte. War ich aber froh. Gott sei Dank!
  --
  Ich wußte kaum, wie mir geschehen war. Mein Mann hatte mich sanft, aber bestimmt aus seinem Zimmer, dem „Büro“, herauskomplimentiert, mich von seinem Computer vertrieben, an dem ich geschrieben hatte, weil mein Laptop doch wieder streikte. Nicht nur das, sondern er hatte mir sogar auch, wenn auch aus Versehen, meinen halbfertigen Brief im Computer weggeschmissen. Ich konnte es kaum fassen. –
  Es war nachts um halb zwölf. Ich war beleidigt. So eine Behandlung war ich nicht gewöhnt!
  Groll stieg auf. Nie wieder würde ich seinen Computer benutzen, nie wieder würde ich mich in sein Zimmer setzen, würde ihn nur knapp und kurzangebunden nach seinen Wünschen fragen und ihm dann seinen Kaffee mit eisigem Gesicht servieren – oder, noch besser, einfach von den Mädchen bringen lassen... Natürlich würde ich dann nicht mehr schreiben können, war doch mein Laptop bis auf weiteres der erschöpften Batterie erlegen. Egal, da war er ja schuld..
  Einige Tage zuvor hatte ich einen Traum gesehen, den ich als Warnung verstanden hatte, nicht nachtragend zu sein.
  Eine meiner Lieblingsstellen im Koran lautete: „ ...und beeilt euch hin zu Verzeihung von eurem Herrn und einem Paradiesgarten, der so weit ist wie Himmel und Erde und bereitsteht für die Gottesfürchtigen – diejenigen, die in guten und in schlechten Zeiten etwas abgeben, ihren Zorn unterdrücken und nachsichtig gegen die Menschen sind. Allah liebt die, die gut handeln...“  Als ich sie mehr als zehn Jahre zuvor, damals in der Zeit mit den afghanischen Wasienmädchen, entdeckte, lernte ich sie auswendig in der Hoffnung, zu jenen zu gehören, die da beschrieben waren. Der Wunsch, zu ihnen zu gehören, wuchs, als im Unterricht einiger ägyptischer Schwestern von ihnen die Rede war. Ein Muslim, der sich so verhält, steht am Tag des Gerichtes wirklich gut da. Es wurde erklärt: Wenn dir jemand Unrecht tut, muß er dir am Tag des Gerichtes im Maße des Unrechtes, das er dir angetan hat, von seinen guten Taten abgeben, oder aber – hat er keine – dir entsprechend von deinen schlechten Taten abnehmen. Hast du ihm aber verziehen, passiert ihm nichts, während du zu jenen gehörst, die Verzeihung von ihrem Herrn erlangen und jenen Paradiesgarten, der so weit ist wie Himmel und Erde... Wenn der Tag des Gerichtes anbricht, wird gerufen: Wo sind die, die gegen ihre Mitmenschen nachsichtig waren? Und sie haben ein Recht auf das Paradies...
  Ich schluckte meinen Groll herunter. Gut, ich würde brav schlafen gehen, eigentlich hatte mein Mann ja recht, wie so oft. Es war wirklich spät genug.
  Ich wachte noch vor dem Morgengebet auf und war auch gleich richtig wach. Das war ein gutes Zeichen. Ich dachte zurück an jene Zeiten voll Licht und Klarheit, in denen ich jede Nacht schon zu dieser gesegneten Nachtzeit vor Beginn der Morgendämmerung aufgestanden war, zusätzliche freiwillige Gebete gebetet, für mich und alle Gläubigen um Vergebung gebeten hatte.. Sie lagen zurück, und ich sehnte mich danach, dieses Licht, diese Klarheit wieder zu erhalten...
  Ich stand auf und betete. Leider vergaß ich, mir einen Tee zu machen, und beim Morgengebet kämpfte ich dann mit der Müdigkeit. So wurde das Gebet nicht so schön, obwohl ich zum ersten Mal aus der Sure Jusuf rezitierte, wie ich es mir schon am Vortag vorgenommen hatte.
  Mein Mann hatte sich nach dem Morgengebet, das Pflicht ist, noch einmal hingelegt, während ich meinen Prinzipien treu und wach geblieben war. Das entsprach dem Vorbild des Propheten, aber Pflicht war es nicht. Als mein Mann dann wieder aufstand, hatte ich zwar inzwischen meinen Tee getrunken, aber ich spürte die Müdigkeit immer noch. Wohl hatte ich meine guten Vorsätze, doch ich war einfach zu müde, um den Kampf gegen den miesen, eifrig wispernden Scheitan zu gewinnen. Unglücklicherweise ließ mein Mann mich auch spüren, daß er wohl wußte, wie sehr er mich am vergangenen Abend geärgert hatte. Und daß es ihm gar nicht leid tat. Als er aus dem Haus ging, fragte, ob ich etwas brauche, rief ich aus der Küche: „Nein, vielen Dank. Ich brauche überhaupt nichts.“ Da war der Groll also doch noch.
  Den ganzen Vormittag wisperte der Scheitan eifrig.  Der Schleimkerl... Was dem alles einfiel... Nicht nur Vorwürfe gegen meinen Mann, nein, auch noch viel raffinierter: Er erinnerte mich an so manches, was ich selbst gesagt oder getan hatte. Zum Beispiel, als mein Mann versucht hatte, mir das Laptop wieder in Gang zu bekommen. Da hatte ich gesagt: „Ich will nur meinen Text ausgedruckt haben, sonst will ich von dem Laptop gar nichts mehr wissen.“ Das war gemein gewesen, hatte es meinen Mann doch über tausend Dollar gekostet. Und da wisperte es nun: „Vielleicht hat er sich ja über dieses oder jenes heimlich geärgert, es sich nicht merken lassen und es dir dann gestern heimgezahlt...“  Oh, Scheitan, dieser Mistkerl. Ich wehrte mich müde und kam kaum gegen ihn an, obwohl ich genau wußte, daß das alles Quatsch war.
  Tatsache war, daß Sadek uns gerade in diesen Wochen ungeheuer verwöhnt, nicht nur die Kinder großzügigst für die Schule ausgestattet, sondern auch mir die Eßvorräte üppigst aufgefüllt hatte. Kistenweise hatte er uns süße, rosafarbene Grapefruits und duftende Mangos – die beste Sorte – mitgebracht...
  Ja, aber vielleicht tut ihm das ja im Nachhinein leid, bereut er es, findet er, daß wir es gar nicht wert waren, flüsterte der Scheitan. „Jetzt reicht´s aber!“  O Allah, bitte, halt mir diesen Kerl vom Leibe. „Audhu billahi mina scheitani radschim“, sagte ich auf Arabisch. Die übersetzen das mit: „Ich suche Zuflucht bei Allah vor dem gesteinigten Teufel.“
  Ich legte mich zu einem frühen Mittagsschläfchen hin nach dem Vorbild des Propheten. Jahrelang hatte ich darum gekämpft, bis es mir zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, hatte mein Bruder bei einem seiner Besuche gemeint, angesichts all des Ungewohnten in unserer Lebensweise. Wenn da vielleicht etwas dran ist – ein Tier ist der Mensch zwar ganz bestimmt nicht, da mußte ich doch energisch widersprechen, und daran, daß er vom Affen abstammt, glaube ich auch nicht –, also wenn da vielleicht etwas dran ist, dann kommt es jedenfalls sehr darauf an, was für Gewohnheiten man hat. Und mit welcher Absicht man sich diese angewöhnt hat, aber das mit der Absicht ist nochmal ein anderes, großes Thema. –
  Als ich aufwachte, waren meine ganze Haut und meine Kleider klatschnaß. Es war ungeheuer heiß, der Strom war weg, Kühler und Ventilatoren standen still. Seit einer Woche ging das nun schon so: Strom und Wasser waren knapp, das Klima anstrengend. Die Kinder kamen aus der Schule, einige legten sich erschöpft einfach hin, einige wollten essen.
  Als mein Mann nach hause kam, war er nett und freundlich wie immer. Natürlich war auch er geschlaucht. Er hatte nichts mitgebracht. Als wir beim Mittagessen saßen, meinte er, er hätte nach Tomaten geschaut, aber sie seien so schlecht und überteuert gewesen, da hätte er es lieber sein lassen. „Ach, du hast dich an die Tomaten erinnert?“ rutschte es mir heraus. Die hatte ich schon am Donnerstag haben wollen, aber es war gerade nicht die richtige Jahreszeit für Tomaten im Sudan, und ich hatte mich eigentlich schon damit abgefunden, die Pizzaböden in der Tiefkühltruhe halt mit Soße aus Tomatenmark aus der Dose weiterzuverarbeiten.
  Mein Groll war weggeschmolzen, alles war gut. Ich war mir wieder sicher, daß ich meinen Mann liebte. Wie sollte ich auch nicht, war er doch wirklich lieb zu mir. Also Friede, Freundschaft, Pfannekuchen. Einige Jahre Eheerfahrung bewahrten mich davor, mich in ein himmlisches Gefühl der Harmonie absinken zu lassen. Da war noch was zu besprechen.
  Als sich beim Nachtisch alle auf die Melonen stürzten, meinte ich vorsichtig: „Sag mal, meinst du, daß die Batterie für meinen Computer sehr teuer ist?“ „Ich habe heute auch schon danach gefragt“, sagte er, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. (Hatte er doch von vorneherein ausgeschlossen, daß man sie im Sudan bekommen könnte!) „Ich hab´ jemanden gefragt, der sich wirklich auskennt. Also du, die Batterie ist hier unmöglich zu besorgen.“ Darauf hatte ich mich ja sowieso schon eingestellt. „Ich könnte meinen Bruder bitten, sie mir in Deutschland zu kaufen und zu schicken.“ , sagte ich. „Wir dürfen deinem Bruder nicht zur Last fallen“, sagte er. Er wußte, wie ungern ich jemanden um einen Gefallen bat. Ich war aber entschlossen, diesmal das Meine beizutragen. „Ach, vielleicht ist das ja gar kein Problem für ihn. Womöglich kann man dieses Teil in Deutschland in jedem Computerladen an der Ecke einfach bestellen lassen. Das ist was ganz anderes als diese Autotelefonreparatur, um die wir ihn vor einem Jahr gebeten haben, das war einfach ein bißchen zu ausgefallen und kompliziert.“ Er ließ sich überzeugen, meinte, ich solle ein Fax für meinen Bruder schreiben und ihm unbedingt genau alles aufschreiben, was auf der Batterie draufstand. Okay.
  Einige Tage später hatte ich das Fax noch nicht geschrieben. Schuld daran war eindeutig die Stromknappheit der letzten Tage.  Da meinte mein Mann:  „Eigentlich könnten wir dir mit der Batterie auch gleich ein Zusatzteil für deinen Computer kaufen, um ihn zu verstärken. Er ist schrecklich langsam.“ „Fein“, freute ich mich, und freute mich auch, weil ich vermutete, daß er gerade im Geschäft finanziell ganz gut dastand, wenn er auf so eine Idee kam. „Du mußt mir genau aufschreiben, wie das Teil heißt, dann schreibe ich es meinem Bruder mit in das Fax.“ „Ach, vielleicht lasse ich lieber Jusuf alles besorgen, der kriegt das in München viel leichter.“
  Dann geschah nichts mehr. Weder schrieb ich das Fax an meinen Bruder, noch telefonierte mein Mann mit Jusuf. Ich fand aber heraus, wie mein Computer behandelt sein wollte, wenn er gerade wieder total streikte: Ich mußte ihn einfach kurz vom Netz trennen, dann, bismillah, wieder einstecken , und er funktionierte. Subhanallah!
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  Subhanallah - gepriesen sei Gott! Ich kruschtelte in meiner Schreibtischschublade, was selten vorkam, denn meistens stopfte ich einfach noch mehr in sie hinein. Und da entdeckte ich doch noch zwei Texte, die das Durchbrennen jenes Laptops überlebt hatten! Ich mußte sie wohl rechtzeitig ausgedruckt haben. Das war im Ramadan gewesen, und auf Afghanistan fielen die amerikanischen Bomben.

Ramadan
  Natürlich sahen wir die Mondsichel nicht, die den Beginn des Mondmonats Ramadan bedeutet, obwohl wir alle im Hof standen und fleißig den Himmel absuchten. Sie steht für kurze Zeit  direkt nach Sonnenuntergang ganz fein und fadendünn am Horizont und ist meistens nur von der Wüste aus oder in den Bergen wahrzunehmen.
  In der Nacht erreichte uns die Nachricht, daß die Mondsichel in einem anderen Land gesichtet worden war. Jetzt war Ramadan da, die Scheitane waren eingesperrt, die Tore des Himmels geöffnet, die der Hölle geschlossen... Ein tiefer Atemzug, o Allah!
  „Nehmt die Suhur- Mahlzeit zu euch, denn sie ist ein Segen“, hat Allahs Gesandter gesagt. Die Suhur-Mahlzeit ist ein spätnächtliches Frühstück, das mit dem Beginn der Morgendämmerung abgeschlossen sein muß.
  Zu fünft saßen wir am Ende der Nächte in der Küche, nein, nicht verschlafen, eher vergnügt, meist unterhielten wir uns munter. Was mag man zu dieser Zeit schon essen? Jeder bildete seine Vorliebe heraus, in wenigen Tagen wurde das Herrichten der Mahlzeit zu einer Routine.
  Die ersten Tage schienen dann so leer vor einem zu liegen... kein Frühstückrichten, kein Frühstück, kein Mittagessen kochen, kein Mittagessen, kein Kaffee für meinen Mann zwischendrin, meine nachmittägliche Henkeltasse Tee entfiel... Das Klima war wunderbar freundlich, nicht zu heiß, windig, die Tage waren nicht zu lang. Da der Monat Ramadan ein Mondmonat ist, verschiebt er sich im Laufe der Zeit von einer Jahreszeit in die andere. So und auch je nach geographischer Lage verändert sich die Länge der Zeit, von Beginn der Morgendämmerung bis Sonneruntergang, in der man sich des Essens und Trinkens enthält.
  Nur einmal verschliefen wir. Da mußte dann jeder kurz schlucken... nichts mehr zu machen, das war der Gebetsruf zum Morgengebet, selbst ein Schluck Wasser war jetzt nicht mehr drin... und dann erleben, daß es trotzdem auch ging. Allahu akbar. Wie immer noch viel größer Gott doch ist.
  „Die Augen sind größer als der Mund,“ pflegte mein Großvater zu sagen. Er war ein bescheidener Mann und führte ein genügsames Leben. – Eine Stunde vor dem Fastenbrechen Panik in der Küche: Ob das Essen auch ausreichen würde, ob auch alle damit zufrieden sein würden, vielleicht sollte ich noch schnell... Hinterher stand ich dann vor den Resten. Wenn man tagsüber gefastet hat, kann man gar nicht so viel essen. Aber wie unglaublich gut doch der erste Schluck Wasser schmeckte, ja, schmeckte! „Der Fastende kann sich zwei mal freuen.“ hat der Prophet gesagt. „Einmal, wenn er sein Fasten bricht, und dann, wenn er am Tag des Gerichtes für sein Fasten belohnt wird."

Kinder...
Der  - soweit man das erkennen konnte – stattliche Mann über dem Schuttberg, der sein Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt, muß wohl der Vater der Kinder gewesen sein. Das Bild der Kinder selbst wirkte eigentlich fast friedlich, drei mit einer  Decke zugedeckt, das vierte hatte nicht mehr hingepaßt, so hatten sie es vor den Köpfen seiner Geschwister quergelegt.  Als schliefen sie noch, sie sahen gar nicht tot aus, waren ja weder verwundet noch blutverschmiert. Die Mutter sei ins Krankenhaus gebracht worden. Zuvor das Bild, wie sie die Kinder ausgebuddelt hatten, ein Mann benutzte eine schwere, grobe Schaufel, ein anderer grub mit bloßen Händen. Als man plötzlich die Beine eines der Kinder sah, die inmitten des Drecks zum Vorschein gekommen waren, schossen mir die Tränen in die Augen, ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und biß mir fest auf die Lippen.

  Der amerikanische Verteidigungsminister erklärte ganz einfach alles für Lüge. Al Dschasira, der Fernsehsender von Qatar, sei eine Propaganda-Station der Taliban. Wir sahen die Pressekonferenz in Al Dschasira spät nachts aufgrund der Zeitverschiebung. Dann wiederholte der Nachrichrichtensprecher sachlich und kurz die Nachrichten, die da dementiert worden waren, brachte nochmal im einzelnen, wo in diesen drei Wochen amerikanische Bomben wieviele Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung gefordert hatten. Es wurden die Bomben auf die Vorratslager des Roten Kreuzes erwähnt, die Bombe auf einen mit Flüchtlingen beladenen Lastwagen – keiner hatte überlebt -, die Namen der verschiedenen Stadtteile und Dörfer, ich konnte sie mir nicht merken.
  Seit vor drei Wochen die amerikanisch – britischen Luftangriffe auf Afghanistan begannen, im Namen der „Bekämpfung des Terrorismus“, war das Gesicht des amerikanischen Verteidigungsministers um einiges gelber und häßlicher geworden.

  In der Nacht schlief ich ausgesprochen gut, schon die zweite Nacht. Mein Jüngster schlief fast zwei Stunden am Stück durch, dann hatte er eine volle Windel. Frisch gewickelt wollte er noch ein bißchen gestillt werden. Ich schlief  mit ihm wieder ein bis pünktlich zum Morgengebet. Die Morgenroutine lief dann gut, bis auf ein paar Kleinigkeiten.  Musa war mit einem Lächeln aufgewacht, wie auch schon am Vortag. Er brauchte wieder eine frische Windel – diesmal war es ein Kackerchen, ein großes! Später war er eine ganze Weile mit dem quietschenden Riegel des Hoftors beschäftigt, den er zwar bewegen, aber noch nicht aufmachen konnte. So konnte ich schnell die Wäsche von der Leine nehmen, sogar ins Haus bringen, während er noch im Hof war, ohne daß er zu jammern begann.
  Das jüngste der vier afghanischen Kinder gestern, das, das sie an den Köpfen seiner Geschwister quergelegt hatten, mag etwa so alt gewesen sein wie er. Es hieß ja auch, unter den Opfern sei ein Kind gewesen, das noch gestillt wurde, und die afghanischen Frauen stillen ihre Kinder sicher auch sehr lang.

„Eib!“
  Mein Mann stand hungrig in meiner Küche und fragte, ob ich wohl etwas für ihn zu essen hätte. Auf das, was ich ihm so vorschlug, hatte er offensichtlich keine rechte Lust. Er begann, mir von einem Reisgericht vorzuschwärmen, das die jungen Männer, die für ihn arbeiteten, Studenten aus Burkina Paso, kochten. Das sei ja so lecker.
  In mir meldete sich Eifersucht, hatte ich doch wohl gespürt, daß es ihm bei mir in den vergangenen Tagen nicht besonders gut geschmeckt hatte. „Krieg´ halt raus, wie die das kochen!“, versuchte ich meine Gefühle hinter Sachlichkeit zu verbergen. „Ach,“ meinte er, „das ist eigentlich bloß Reis, ein paar Knochen mit bißchen Fleisch dran, Gewürz, rot ist der ganze Reis dann.“ Und fuhr fort: „Das ist deren Nationalgericht, sie haben es heute gekocht, weil sie Besuch bekommen haben.“ Sie hätten ihn eingeladen, mitzuessen. Da habe er aus Höflichkeit einige Löffel gegessen.
  „Ja, aber wenn sie dich doch eingeladen haben...“, meinte ich und mußte blinzeln. Die zweite Hälfte des Satzes sprach ich nicht aus, mein Mann verstand es auch so: Warum stand er dann jetzt hungrig in meiner Küche?
  „Eib!“ meinte er ganz entschieden, das seien doch arme Leute, und sie hätten eigentlich für ihren Besuch gekocht. „Eib!“ ist das arabische Universalwort für alles, was man einfach nicht tut. Es zieht eine klare Grenze da, wo das gute Benimm aufhört.

Afrikanischer Sommer
  Und wir sind um einen afrikanischen Sommer älter.
  Ein schöner Satz. Wenn er doch nur schon wahr wäre, dachte ich. Nein, sagte eine warnende Stimme in mir. Das Wörtchen „wenn doch nur“  öffnet dem Scheitan Tor und Tür, habe ich vom Propheten gelernt.
  Und auch, daß für den wahrhaft Gläubigen alles immer gut ist. Und das ist nur beim wahrhaft Gläubigen so: Wenn ihn Schlechtes trifft, harrt er geduldig aus, und das ist gut für ihn,  und wenn ihm Gutes widerfährt, ist er dankbar, und das ist gut für ihn.
  Stromausfall, Wasserknappheit, Hitze, Hitzeausschlag, Schweiß, jammernde Kinder, die Unberechenbarkeit des Stromausfalls... Den Gedanken daran, wie schön es in Deutschland im Sommer sein konnte, brauchte ich nicht wegzuschieben. Ich hatte herrliche Sommer in Deutschland erlebt, das war geschenkt von Allah. Diesen Sommer ertrank Deutschland im Regen. Und ich erlebte diesen Sommer im Sudan. Allah hatte das so bestimmt. Der Sudan war nie das Land unserer Träume gewesen. Es hatte uns sozusagen hierherverschlagen. Nein, nicht „es“ und auch nicht sozusagen. Allah bestimmt.
   „Keiner weiß, in welchem Land er sterben wird.“  heißt es im Koran. Daß es wahr ist, wird jeder zugeben, nur, daß man es sich selten vor Augen hält.

So einfach ist das
  Deutschland ertrank wirklich im Regen. Nun wurde schon von fünfzehn Opfern der Überschwemmungskatastophe gesprochen. Wieviele Menschen mochten in gefährlichen Situationen, dem Ertrinken nahe gewesen, dann gerettet worden sein? Ein Anstoß zum Nachdenken?
  Im Stadtzentrum von Bitterfeld stand das Wasser in den Straßen jetzt schon 1,50 bis 1,80m hoch. Im Fernsehen das Bild der oberen Hälfte eines so vertraut deutschen Straßenbildes, unten die Fluten... Man sah Rettungsaktionen, ein älterer Mensch wurde in seinem Sessel, ein Katzenkorb mit Katze, säuberlich mit Gitterchen verschlossen, einige billig gekleidete junge Männer wurden in ein Boot gehievt.
  Ausführlich kam eine junge Frau zu Wort, helles halblanges Haar, ein ärmelloses rohweißes Baumwollhemd mit breiten Trägern. Sie erzählte, wie sie mit einem Bekannten, der einen Transporter hätte, den ganzen Tag lang Sandsäcke gefahren hätten, bis sich dann abends die Erschöpfung bemerkbar gemacht hätte, wiederholte sich – daß die ihr so viel Zeit von der Sendezeit gaben! –, dann sei ja der Damm gebrochen. Ja, ihre Wohnung sei direkt an der Mulde, sie sei sich sicher, daß da jetzt das Wasser stünde.
  Sie ging mir nicht aus dem Kopf, dieses helle, halblange Haar, das rohweiße Hemd, an ihr Gesicht erinnerte ich mich nicht mehr, aber natürlich, ihre Brüste, die sich unter dem Hemd wölbten. Sie war vielleicht Mitte, Ende zwanzig, wirkte unkompliziert, unverheiratet, kinderlos. Letztendlich würde es darum gehen, daß man Geld brauchte, um die Schäden wieder gut zu machen, so weit sie wiedergutzumachen waren.  Am meisten tat es mir für die alten Menschen leid, für die war es bestimmt am schlimmsten. Die sorgsam gehüteten Erinnerungen, Fotoalben, Bilder an den Wänden würde ihnen niemand wiederbringen können, auch wenn es gelingen sollte, effektiv und schnell Hilfe zu organisieren. Ich stellte mir die verschlammten Wohnungen vor, wie wichtig doch für das Selbstbewußtsein des Deutschen seine vorzeigbare Wohnung, deren Gestaltung ist, dieser Sinn für Wohnkultur. Mitgefühl, Solidarität mit den Opfern würde förderlich sein, wenn dann die Gesellschaft als Ganzes die Folgen der Katastrophe spüren würde. Das würde Geld kosten, das man eigentlich für andere Dinge hatte verwenden wollen.
  Ob der Deutschen bewußt war, daß ihre hellen Haare, das Shirt, ihr Busen mithelfen sollten, dieses Mitgefühl, diese Solidarität zu fördern? Fände sie womöglich auch ganz in Ordnung, sie wirkte unkompliziert, brauchbar.

  Ich saß am Schreibtisch und holte meine Gedanken nunmehr aus Deutschland zu dem, was vor mir lag. Seit Wochen, so schien es, hing ich nun schon an denselben Koranversen fest, und sie entglitten mir immer wieder auf´s Neue. Es galt wohl, sie nicht nur auswendig zu lernen, sondern sich auch inhaltlich noch einmal neu mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich nahm meinen deutschen Koran zur Hand, zudem das Tafsir-Buch mit den Erläuterungen zum Koran. Aufzuschreiben und damit festzuhalten, was ich verstanden hatte, hatte mir schon immer beim Denken geholfen. Und so fand ich mich wieder bei meiner eigenen Übersetzung der Verse.
  Ich kämpfte mich durch den Text, aber als ich am Ende angekommen war und es noch einmal durchlas, war ich alles andere als überzeugt von dem, was ich produziert hatte. Ich wollte so gerne den Koran in meiner Sprache wiedergeben, aber das ging nicht. Ich hatte zunächst an der mir vorliegenden Übersetzung eines deutschen Muslims entlanggeschrieben, der ich, obwohl sie so viel Leistung barg, scheußliche Unlesbarkeit und Grammatikfehler vorwarf, hatte die deutsche Sprache gebogen und gezogen, hier geflickt und da gemogelt, um das, was mich am Vorliegenden störte, mit etwas anderem zu ersetzen. Das Ergebnis war nicht besser geworden. Hätte ich, als es um das Paradies ging, lieber von einem „Zuhause“ als von einer "Heimstätte" schreiben sollen? Aber beei der Hölle konnte man dann wohl kaum von einem Zuhause schreiben, auch wenn im Arabischen das gleiche Wort verwendet war. Und das Wort „Bleibe“ hatte irgendwie einen komischen Beigeschmack. Die Sprache des Koran hat nichts eigentümlich-ungebräuchliches, sie ist so lebendig und klar.
  Ich faßte mir ein Herz und machte einen zweiten Anlauf. Ich schrieb einfach in einigermaßen flüssigem Deutsch, was ich selber verstanden hatte, sicherte mich nochmal ab, indem ich in der Koranerläuterung las, daß ich da auch nicht danebenlag. Gut lesbar und verständlich sollte es sein, ist doch der Koran auf Arabisch gut lesbar, nein wunderbar lesbar und so schön! Die erklärenden Klammern paßten da nicht ins Konzept, natürlich ist im originalen Koran nichts in Klammern!
  Also war mein Produkt nun lesbar, und was drinstand, war wahr, nach bestem Wissen und Gewissen. Das war ja schon mal etwas. Konnte man es als Koranübersetzung bezeichnen? Sprachlich und von der Struktur her war mein Text an vielen Stellen unendlich weit vom Original entfernt. Wie weit war er um der Klarheit willen flach geworden, verglichen mit der Tiefe und Dimension des Originals, das trotzdem nicht nebelig oder diffus ist? Die Ausdrucksmöglichkeiten der arabischen und meiner geliebten deutschen Muttersprache sind zu verschieden. Der Punkt ist wohl, daß man den Koran nicht übersetzen kann. Der Koran ist Gottes Wort, jeder Übersetzungsversuch Menschenwort. „Und sie erfassen von Seinem Wissen nur so viel, wie Er will.“ heißt es an einer Stelle im Koran... Und das, was ich da - dank Seiner Barmherzigkeit - erfaßt hatte und in meine deutschen Worte gefaßt hatte, lautete so:
Den Menschen ist die Beurteilung ihres Handelns nahegerückt,
und sie wenden sich achtlos ab.
            Und wenn eine neuerliche Ermahnung von ihrem Herrn zu ihnen kommt,
            hören sie sie sich an und nehmen es nicht ernst.
            Ihre Herzen sind unaufmerksam und verstehen nichts.
            Und die, die Unrecht tun, sagen heimlich zueinander:
            „Ist der da (der Prophet) denn nicht nur ein ganz normaler Mensch wie ihr auch?
            Laßt ihr euch etwa auf Zauberei ein,
            und seid euch dessen voll bewußt?“
            Er (der Prophet) sagte:
„Mein Herr weiß, was gesprochen wird im Himmel und auf der Erde,
            und Er ist Der, Der alles hört und alles weiß.“
            Sie aber sagen:
            „Wirre Träume,
            er (der Prophet) hat ihn (den Koran) sich nur ausgedacht,
            er ist nur ein Dichter,
            also soll er uns mit einem Wunder kommen,
            wie die Propheten vor ihm.“
            Vor ihnen gab es Wunder,
und die, die dann trotzdem nicht glaubten,
haben wir zugrundegehen lassen.
Würden sie denn glauben,
wenn wir sie ein Wunder erleben ließen?

Sag: „Wer bewahrt euch in der Nacht und am Tage
Vor dem Lieben Gott?“
Doch sie bleiben von der Ermahnung ihres Herrn abgewandt.
Oder haben sie Götter, die sie vor Uns schützen könnten?
Die können sich selbst nicht helfen
Und niemandem gegen Uns beistehen.
...
...
Er ist es, Der euch den Blitz sehen läßt,
in Furcht (von ihm erschlagen zu werden) und Hoffnung (auf den Regen),
und die schwerlastenden Wolken sich bilden läßt.
Und der Donner preist Sein Lob
Und ebenso die Engel, aus Ehrfurcht vor Ihm.
Und Er sendet Donnerschläge
Und trifft damit, wen Er will.
Und da streiten sie über Gott,
wo doch sein Zugriff heftig ist.
Ihm gilt die wahre Anrufung,
und jene, die sie an Seiner Stelle anrufen,
lassen sie ohne Antwort.
Es ist nur wie bei einem,
der beide Handflächen zum Wasser streckt,
damit es seinen Mund erreichen möge,
und es erreicht ihn nicht.
Und jede Form von Gottesdienst derer,
die den Glauben (an diese neue letzte Offenbarung Gottes) verweigert haben,
entbehrt der  Grundlage.
Und vor Gott wirft sich nieder,
was in den Himmeln und auf der Erde ist,
freiwillig und widerwillig,
und auch ihre Schatten - zur Morgenstunde und am Ende des Tages.
Sag: Wer ist der Herr der Himmel und der Erde?
Sag: Gott!
Sag: Nehmt ihr euch etwa an seiner Stelle jemanden,
der euch beschützen soll,
aber nicht einmal für sich selbst Nutzen oder Schaden bewirkt?
Sag: Ist der Blinde gleich dem Sehenden?
Oder ist die Finsternis wie das Licht?

Sag: Gott ist der Schöpfer von allem,
und Er ist der Eine, Der Allbezwingende.
...
...
Für diejenigen, die ihrem Herrn nachkommen, gibt es das Beste,
und für diejenigen, die Ihm nicht nachkommen –
selbst, wenn sie alles hätten, was es auf der Erde gibt
und nochmal so viel dazu,
würden sie es hergeben, um sich auszulösen von schlimmer Strafe.
Für diese wird die Beurteilung ihres Handelns schlimm,
und ihre Bleibe ist die Hölle,
und das ist ein elendes Ende.
Ist also der, der weiß,
daß das, was dir von deinem Herrn offenbart wurde,
die Wahrheit ist,
wie jener, der blind ist?
Es erinnern sich ja nur die, die Einsicht haben,
die Verpflichtung gegen Gott einhalten
und die Verpflichtungen gegen die Menschen,
die verbinden, was nach Gottes Befehl verbunden werden soll,
ihren Herrn fürchten
und sich vor einer schlimmen Beurteilung ihres Handelns in Acht nehmen,
die geduldig ausharrten im Erstreben des Antlitzes ihres Herrn,
das Gebet verrichteten,
etwas abgaben von dem, womit Wir sie versorgt hatten,
im Verborgenen und öffentlich,
und mit Gutem Schlechtes vergelten
 - jenen gehört die letztendliche Heimstätte,
die Gärten Edens, die sie betreten werden,
und mit ihnen, wer richtig handelte
von ihren Vorfahren, ihren Ehegatten und ihrer Nachkommenschaft.
Und die Engel treten herein zu ihnen durch jedes Tor und sagen:
„Friede sei mit euch, weil ihr geduldig ausgeharrt habt.“
Wahrhaft gut ist, wo sie für ewig bleiben werden.
Jene aber, die die Verpflichtung gegen Gott brechen,
die doch besteht,
zertrennen, was nach Gottes Willen verbunden sein soll,
und auf der Erde Unheil stiften –
die sind verflucht,
und wahrhaft schlecht ist, wo sie für ewig bleiben werden.

Gott weitet die Versorgung aus, für  wen Er will,
und Er begrenzt sie, für wen Er will.
Und da haben sie das Leben in dieser Welt genossen,
doch das Leben in dieser Welt ist im Hinblick auf das Jenseits
nur etwas, das es zu nutzen gilt.

  Der Strom war schon wieder ausgefallen, das wievielte Mal in den letzten zwei Tagen! Draußen ging ein Lüftchen, außerdem gab es Mondschein. So setzten wir uns nach dem Abendgebet alle in den Männerhof, während Chadidscha und Abudi in der Küche bei Kerzenlicht Butterbrote schmierten und Kakao machten für das Abendessen.
  Zum Vollmond fehlte nicht mehr viel, der Mond war fast kreisrund. Unser Bäumchen und die Topfpflanzen sahen schön aus im Mondlicht. Musa kletterte auf einen Stuhl. Er schaute hoch zum Dach, wußte er doch gut, daß dort um diese Zeit unsere und fremde Katzen unterwegs waren. Auch Safia schaute nach oben. Der Mond stand genau über der Dachkante am Himmel. „Wenn die Katzen zum Mond wollen, das geht schon, da müssen die Menschen sie halt mitnehmen, wenn sie zum Mond fliegen!“, sagte Safia. „Stimmt,“  meinte mein Mann, „aber sie haben stattdessen einen Affen und einen Hund mitgenommen.“ „Der Mond“, sagte sie, „sieht klein aus. Aber in Wirklichkeit ist er viel größer. Und die Sterne sehen auch klein aus, und in Wirklichkeit sind sie viel größer. Und Allah ist noch viel größer.“  „Stimmt“, sagte ich. (So einfach war das.)

Nicht: am meisten
  Es war zum Heulen, wie schlecht meine Gebete schon wieder waren. Besonders nach der vergangenen Hochphase, in der ich mit Leichtigkeit und schöner Stimme, ganz sicher und mühelos – ma scha Allah, Gottes Wille hatte es möglich gemacht! – abwechselnd mehrere mittellange Suren hatte rezitieren können. Nun aber las ich meine Gebete stockend, voll Unsicherheit, ob auch alles richtig war, und ich mußte mich nunmehr auf drei Suren beschränken, zwischen denen ich mich abwechselte. In den längeren Suren, die ich zuvor gelesen hatte, blieb ich plötzlich immer wieder stecken.
  Vielleicht betete ich zu viel? Konnte das sein? Ich meine, was die freiwilligen Gebete und die Länge der Gebete angeht. Ehrgeiz und Disziplin hatte ich ja. Aber im Islam muß alles in einem gesunden Verhältnis stehen. Das regelmäßige, sorgsame Einhalten  der Pflichtgebete zu den vorgeschriebenen Zeiten, fünfmal täglich, ist die Voraussetzung, daß Gott andere gute Taten annimmt. Es unterscheidet den Muslim vom Nicht-Muslim. Der Islam ist immer Überzeugung, dann Handeln aus dieser Überzeugung heraus. Ein reines Lippenbekenntnis genügt nicht.
  Aber viele andere Dinge sind auch Pflicht. Alles muss in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Nicht nur Gott, auch die Mitmenschen haben ein Recht über einen, das man ihnen geben muß. Allah warnt uns: „Hast du den gesehen, der den Tag des Gerichts für eine Lüge hält? Das ist der, der das Waisenkind verächtlich wegstößt und nicht auffordert, die Armen zu speisen. Und wehe jenen Betenden,“ – wehe jenen Betenden! – „die ihre Gebete nachlässig beten, die gesehen werden wollen und die Hilfeleistung verweigern.“
  Und Er, gelobt und gepriesen sei Er, erklärt uns: „Voll Segen ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft liegt und Der alles vermag. Er hat den Tod und das Leben geschaffen, um Euch zu prüfen, wer von euch am besten handelt...“ – am besten, nicht: am meisten – „und Er ist Der Mächtige, Der Verzeihende.“

Mein Vater
  Mir fiel ein, daß ich unbedingt mal wieder meinen Vater anrufen mußte. Es wurde wirklich Zeit. Wie immer tat es mir leid, daß ich seit dem letzten Brief so viel Zeit hatte verstreichen lassen.
  Mir wurde bewußt, daß ich den Gedanken an meinen Vater wohl gerne verdrängte, war er doch mit einer Mischung aus nicht angenehmen Gefühlen verbunden. Da waren Traurigkeit, schlechtes Gewissen und so etwas wie klägliche Hilflosigkeit.
  „Zu den Eltern sollst du gut sein“, steht im Koran. Und: „Mir sollst du Dank zeigen, und deinen Eltern...“
   So liebevoll und sorgsam hatten unsere Eltern uns aufgezogen, mich und meinen etwas jüngeren Bruder. Selbstverständlich ging meine Mutter nicht arbeiten, um sich gut um uns Kinder kümmern zu können. Sie führte ihren Haushalt ganz vorbildlich, es blitzte bei uns zuhause vor Sauberkeit, die Wohnung war schön eingerichtet. Mama konnte wunderbar kochen und ernährte uns gesund und vernünftig. Solide Verhältnisse – zwar wurde gespart, aber es fehlte uns an nichts. Wir waren immer gut ausgestattet und versorgt und wurden in jeder Hinsicht gefördert. Es wurde darauf geachtet, daß wir ein gepflegtes Hochdeutsch sprachen. Sorgfältig wurden uns wertvolle Kinder- und Sachbücher ausgesucht. Darüber hinaus nahm uns meine Mutter regelmäßig in die Gemeindebibliothek. So wurde mein fast unstillbarer Bedarf an Lesestoff einigermaßen befriedigt, und wir bekamen viel Anregungen. Selbermachen wurde bei uns zu hause groß geschrieben. Im Frühling gingen wir auf die Erdbeerplantage für Selberpflücker, dann kochte Mama zuhause Marmelade. Zu Weihnachten durften wir beim Brötlebacken helfen, und Mama, die gelernte Blumenbinderin war, schmückte mit geschickter, glücklicher Hand den Adventstisch und den Weihnachtstisch, Papa dekorierte den Weihnachtsbaum für die Bescherung. An Ostern wurden gemeinsam Ostereier bemalt, Mama machte den Osterstrauß. Sie konnte auch wunderbar nähen und stricken, sie hatte einen guten Geschmack, und so hatten wir oft besonders hübsche Sachen an. Die ganze Familie bastelte und werkelte, und es war feste Familientradition, daß man sich gegenseitig Selbergemachtes schenkte, sei es nun zu den Festen oder zum Geburtstag, auch den Großeltern, Tante Gertrud und anderen Verwandten. Umgekehrt wurden wir angehalten, uns für erhaltene Geschenke mit einem Brief artig zu bedanken. Mit vereinten Kräften gestalteten uns unsere Eltern liebevoll  gelungene Kindergeburtstage, einmal nahm unsere Mutter sogar die ganze Kindergruppe auf Fahrrädern zum Grillplatz, und unser Vater kam dann direkt von der Arbeit auch dazu. Es wurde ein ganz toller Tag. Natürlich trieben wir Sport. Das beschränkte sich nicht darauf, daß wir Kinder ins Ballett bzw. ins Judo gehen durften, sondern wir gingen alle zusammen zum Schifahren, zum Langlaufen, zum Klettern, Schwimmen, Paddeln, Radfahren, Eislaufen. Aus Prinzip gab es bei uns zu hause keinen Fernseher, meine Eltern waren der Meinung, das sei nicht gut für uns Kinder. Und unser Leben war ja so reich und ausgefüllt, daß wir darauf gut verzichten konnten. Jeden Sonntag ging es raus in die Natur, und wir machten große, zünftige Wanderungen. Vater zeichnete dann die Route, die wir gelaufen waren, säuberlich in die Wanderkarte ein. So erwanderten wir uns den ganzen Schwarzwald und den Pfälzer Wald, kraxelten auf Burgen, suchten auch mal Brombeeren oder sammelten Pilze. Wir machten mehrere Hochgebirgstouren, ein unvergeßliches Naturerlebnis für mich.
  Als dann meine Mutter plötzlich starb, ich war dreizehn und mein Bruder noch nicht ganz zwölf, hielt mein Vater durch und zog uns noch vollends groß. Daß ich später meinen Weg ganz konsequent alleine ging und dieser Weg mich weit weg führte von einem Leben nach seinen Vorstellungen -  wie hart war das gegen ihn. Ich hatte mich ja nicht nur räumlich weit von ihm entfernt, sondern vor allem auch innerlich, war ihm fremd geworden.
  „Zu den Eltern sollst du gut sein“, steht im Koran. Und: „Mir sollst du Dank zeigen, und deinen Eltern...“
  Traurigkeit, schlechtes Gewissen und Hilflosigkeit. Das war ja immerhin etwas, meine Gefühle so hochkommen zu lassen statt sie zu verdrängen. Wenn ich sie vor mir selbst zugab, sie sozusagen in die Hand nahm und näher betrachtete, sie benannte, verloren sie ihre destruktive, lähmende Macht. Im Islam gab es doch auf alles eine Antwort.
  Was die Traurigkeit anging: Ich mußte auf Allah vertrauen, daß Er mir gut will, daß alles gut für mich ist. Auch wenn etwas weh tut. Alles ist gut für den Gläubigen. Und das ist nur beim wahrhaft Gläubigen so: Wenn ihn Schlechtes trifft, harrt er geduldig aus, weil er es ja annimmt als eine Prüfung von Allah, und das ist gut für ihn,  und wenn ihm Gutes widerfährt, ist er Gott dankbar, und das ist gut für ihn. Denn sowohl für die Standfestigkeit als auch für die Dankbarkeit erwarten ihn bei Allah ein Lohn, der trotz aller Beschreibungen im Koran oder in den Worten des Propheten letztlich unbeschreiblich ist, jenseits, über der menschlichen Vorstellungskraft.
  Mein schlechtes Gewissen nun war sicher berechtigt. Immer wieder hatte der Prophet den Menschen gepredigt, wie ernst die Verpflichtung gegen die Eltern zu nehmen ist. So hatte ein Mann schließlich seine greise Mutter auf seinen Schultern getragen, Rollstühle gab es damals ja noch nicht. Dafür erwartete er sich ein Lob vom Propheten, doch dieser sagte dazu, daß er seiner Mutter damit nicht nicht einmal genug Dank für eine einzige Wehe bei seiner Geburt erwiesen habe.
  Einmal hatte mein Vater so nebenbei erzählt, wie er fast weinend am meinem Bettchen gestanden hätte, als ich zum ersten mal krank war. Wohl gerade, weil es so gar nicht seine Art war, so etwas zu sagen,  war mir das hängen geblieben.
Schlechtes Gewissen – blieb, Gott um Verzeihung zu bitten und zu versuchen, es von nun an besser zu machen.
  Aber wie bloß? Da blieb diese elende Hilflosigkeit... Man ist nicht hilflos, kann man doch Gott um Hilfe bitten, ja, man soll es sogar. Gott will gebeten sein, Er liebt es, wenn wir Ihn bitten, dazu sind wir ja da. Er hat zu allem die Macht. Und unser Vermögen besteht darin, uns bittend an Ihn zu wenden. Fest überzeugt sein sollen wir dabei, daß Er unsere Gebete erhört und erfüllt, wenn auch nicht immer gleich und nicht immer so, wie wir uns das vorstellen. Gott sei Dank, denn sonst würden ja jeden Moment plötzlich Goldstücke vom Himmel regnen und uns erschlagen.
  Wenn ich so recht feste an meinen Vater dachte, konnte ich, vielleicht gerade, weil er nicht vor mir stand, die Fremdheit, die zwischen uns entstanden war, vergessen, wieder die alte Liebe aufspüren, die ich als kleines Mädchen für meinen Papa empfunden hatte. Wie sehr hatte ich ihn doch geliebt, er war einfach alles gewesen für mich. Und da war dann dieser ungeheuere Schmerz darüber, daß es mir nie gelungen war, ihm den Islam begreiflich zu machen...
  Gleich als ich Muslim geworden war, hatte ich ihm in einem Brief geschrieben, was ich da Tolles entdeckt hatte. Für ihn kam das völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Zu wenig, ja fast überhaupt nicht hatte ich ihm doch zuvor erzählt, was in mir vorging, wußte er ja noch nicht einmal, daß ich zum Glauben an Gott gefunden hatte. Er meinte damals wohl, ich sei verrückt geworden. 
  Später hatte ich keinen meiner artig berichtenden Briefe geschrieben, ohne zu versuchen, ihm darin auch ein bißchen vom Islam zu erklären. Den Weg zu seinem Herzen zu finden, war mir nie gelungen, immer hatte er alles nur als Besserwisserei, Belehrungs- und Missionierungsversuche empfunden. Eines meiner längsten Gedichte hatte ich im Gedanken an ihn geschrieben, es war streckenweise auch recht gut, inhaltlich, aber der Ton stimmte nicht. Bei ihm kam wohl immer nur an, daß ich seine Vorstellungen, daß ich ihn ablehnte. Und da wünschte ich so von ganzem Herzen das Allerbeste für ihn – den Islam! Aber mein Herzenswunsch, daß mein Vater Muslim würde, war bisher unerfüllt geblieben.

Depressionen
  Nach dem Telefongespräch mit meinem Vater schrieb ich ihm einen Brief, der anders war als das, was ich ihm in vorangegangenen Briefen üblicherweise geschrieben hatte. Statt mich zu bemühen, unser Leben und die Fortschritte der Kinder in netter Weise zu beschreiben, schrieb ich nun einmal von mir selbst, davon, was meinem Übertritt zum Islam vorangegangen war und wovon er damals keine Ahnung gehabt hatte, weil ich es tunlichst vor ihm verborgen hatte. Wer gibt schon gern zu, ja gesteht sich überhaupt selbst ein, daß er Depressionen hat?
  Die Wahrheit war, daß ich schon in der Schulzeit Depressionen gehabt hatte, aber damals ließ sich das noch kaschieren. Als ich studierte, wurde es dann richtig schlimm. Das ging so weit, daß ich mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Der U-Bahn-Zug in London schien mir eine magische Anziehungskraft auszuüben...Sich einfach vor den Zug schmeißen, damit die Qual ein Ende hätte...
  Was mich abhielt, war der Gedanke, daß dann ja jemand hinterher die Sauerei würde wegputzen müssen. Ich war Au-Pair-Mädchen in einer Familie mit zwei kleinen Buben und dachte auch, wie das für die wohl sein würde, wenn sie später einmal erfahren würden, daß sich ihr Au-Pair-Mädchen umgebracht hätte. Was es für meinen Vater und für meinen Bruder bedeutet hätte – daran dachte ich gar nicht, meine Gedanken reichten viel zu kurz in dem Zustand, in dem ich war.
  Wieder zurück in Deutschland hatte ich schlimme Schlafstörungen und geisterte nachts durch das Studentenwohnheim und durch die leeren Straßen von Neckargemünd. Das tolle Kommentar einer Mitbewohnerin, die evangelische Theologie studierte und Pfarrerin werden wollte: „Ach, weißt du, dreh dich doch einfach auf die andere Seite und schlaf weiter.“ Eines nachts, als es gar nicht mehr weiter zu gehen schien, kam ich auf meinen Konfirmandenspruch: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.“  In Not war ich schon wirklich.  Ich betete das Vaterunser und betete es wirklich. Dann schlief ich, und ich schlief gut.
  Tage später erst wurde mir bewußt, was eigentlich geschehen war.  „...und du sollst mich preisen...“  Ja, sollte ich jetzt Halleluja singen, oder wie? Dann ging im Wohnheim die Diskussion um Gott und Glauben los. Die drei muslimischen Mitbewohner, die wir hatten, - ein heruntergekommener Afghane, eine strebsame Doktorantin aus Bangladesh und eine scheue Iranerin – schwiegen leider schön still.
  Auch nachdem ich Muslim geworden war, hatte ich noch lange Depressionen. Aber mit dem Koran hatte ich eine Medizin, die sicher und stetig wirkte.
  Da fühlte ich diese Lebensangst, die sich nirgends festmachen ließ und mich trotzdem ganz lähmte, und da las ich: „Allah mutet keiner Seele zu, was über ihre Kräfte ginge. Für sie ist, was sie durch ihr Handeln erworben hat an Gutem, und gegen sie ist, was sie sich durch ihr Tun eingehandelt hat an Schlechtem.“ Und:  „Vertraue auf den Lebendigen, Der nicht stirbt.“
  Da schien mir das Leben so gar nicht wert, gelebt zu werden, und ich las: „Wißt, daß das Leben in dieser Welt nur Spiel ist und nichtiges Gerede, Schmuck, gegenseitiges Angeben unter euch, Vermehren von Besitz und Kindern – so wie reichlicher Regen, der zur Freude der Bauern alles reichlich wachsen läßt. Doch dann vertrocknet es, und du siehst es vergilben, dann ist es zermahlen. Und im Jenseits warten harte Strafe sowie Allahs Verzeihung und Sein Wohlgefallen. Und das Leben in dieser Welt ist nur etwas, das es zu nutzen gilt, obwohl es einem falsche Hoffnungen macht.“
  Da war ich die Hochs und Tiefs meines Lebens so müde, fragte mich, wozu dieses Tief bis zu seinem Ende durchstehen, wenn doch nach dem nächsten Hoch erfahrungsgemäß auch wieder das nächste Tief kommen würde. Und las: „Wenn Wir den Menschen von Uns Barmherzigkeit erfahren lassen und sie ihm dann entziehen, verliert er die Hoffnung und wird  undankbar. Und wenn Wir ihm  gnädig sind, nachdem ihn Schaden angerührt hat, sagt er einfach: ´ Ich habe die schlechten Zeiten hinter mir!´, und wird übermütig und angeberisch. Anders ist das nur bei jenen, die geduldig ausharrten und richtig handelten. Diese erwartet Verzeihung und großer Lohn.“
  Da kostete es mich so viel Kraft, mich aufzuraffen, um die selbstverständlichsten, alltäglichsten Dinge zu erledigen. Der kleinste Mißerfolg, jede unerwartete Schwierigkeit brachten mich draus. Und ich las: „Wenn die Erde erbebt in ihrem Beben (das ist am Tag des Gerichts), die Erde ihre Lasten auswirft (gemeint sind die begrabenen Toten) und der Mensch sagt: `Was ist mit ihr los?` An diesem Tag teilt sie mit, was sie zu berichten hat, weil ihr Herr es ihr eingegeben hat. An diesem Tag kommen die Menschen in Gruppen, und es wird ihnen vor Augen gehalten, wie sie gehandelt haben. Und wer Gutes tut im Gewicht eines Sonnenstäubchens, wird es sehen, und wer Schlechtes tut im Gewicht eines Sonnenstäubchens wird es sehen.“
  Da fühlte ich mich wie in einem tiefschwarzen Tunnel, der endlos schien, und las: „Sag:´Ich flüchte mich zum Herrn des anbrechenden Tages vor dem Übel, das Er geschaffen hat, vor dem Übel der Dunkelheit, wenn sie sich ausbreitet...“ und las: „Allah ist das Licht von Himmel und Erde, Er ist Licht auf Licht.“
  Als der Brief zuendegeschrieben war, fühlte ich mich auf eine Art erleichtert. Aber es hatte mich auch sehr mitgenommen, mich an all das zu erinnern. Doch erinnern sollen wir uns, wie oft steht im Koran: "Erinnern sie sich denn nicht?", und das ist tadelnd gemeint. Die Erinnerungen hochkommen lassen, auch wenn sie schmerzhaft, peinlich, unangenehm sind. Man kann sie dann sortieren und säuberlich wieder wegpacken, sorgsam entscheiden, was davon man mit anderen teilt, und was lieber nicht. Das hat nichts mit dem Seelenstriptease zu tun, den wir als Studenten meiner Generation praktizierten....
 Ja, die Erinnerungen hatten mich mitgenommen, und ich wußte, das war gut so. Mich daran zu erinnern, wie schwach und bedürftig ich gewesen war und wie groß dann die Barmherzigkeit, Gottes Barmherzigkeit gewesen war, Der mir den Glauben an Ihn und den Islam geschenkt hatte. So wurde mir bewußter, daß es doch letztlich in Gottes Hand lag, was aus uns allen würde.
  „Und wenn Allah dich anrührt mit Schaden, so gibt es niemanden, der diesen beheben könnte außer Ihm. Und wenn Er für dich Gutes will, so gibt es niemanden, der Seine Gunst abwenden könnte. Er schenkt sie, wem Er will unter Seinen Dienern. Und Er ist Der Verzeihende, Der Barmherzige.“
 


Mein Bruder
   Mein Bruder war Muslim geworden. Das war nun schon etwa ein Jahr her, aber irgendwo hatte ich es noch gar nicht richtig begriffen. Über lange Jahre hinweg war es eigentlich nur mein Mann gewesen, der ihm ab und zu vom Islam erzählt hatte, und oft hatte ich daneben gesessen und gedacht: O Gott, was soll mein Bruder denn mit dem Propheten Salomo (zum Beispiel) anfangen, das interessiert den doch nie im Leben!
  Mein Bruder und mein Mann mochten sich sehr, und mein Bruder kam gern zu uns zu Besuch. Bei seinem ersten Besuch in Granada in Südspanien war ich gerade erst schwanger mit Chadidscha. Ohne Kommentar sah er meinem Kopftuch zu und meinem eifrigen Beugen beim Beten. Einmal drückte ich ihm den Napf mit dem Katzenfutter in die Hand für die Katze auf der Dachterrasse und sagte: "Das bringst du jetzt in scha Allah - so Gott will - der Katze hoch, und dann...." Er störte sich und meinte: "Warum denn in scha Allah, ich bring das jetzt auf jeden Fall hoch!" Ich sagte: "Das weißt du überhaupt nicht, kann doch sein, daß dir vorher die Decke auf den Kopf fällt!" Er runzelte die Stirn und warf dann einen Blick nach oben auf die Decke des Treppenhauses, das vor vielen, vielen Jahren wohl mal recht prachtvoll gewesen war. In der Decke gab es einen großen Riß... Das sah ich in diesem Moment auch zum ersten Mal. "Na ja, vielleicht hast du ja recht...", meinte er zögernd.
  Bei einem anderen Besuch bei uns in Südspanien war Chadidscha dann schon auf der Welt. Da war Andi bei einer unserer Fahrten über die spanische Hochebene, die Meseta, dabei. Ich will nicht behaupten, daß ich diese Fahrten nie vergessen werde, denn das stimmt nicht, einmal wird man alles vergessen.
  Das ist so: Am Tag des Gerichts werden jene herbeigebracht, die im diesseitigen Leben am meisten begnadet waren mit weltlichen Gütern, die alles hatten, was man sich vorstellen kann, von Gesundheit über ein glückliches Familienleben, Kindern, Ansehen, Reichtum, Frieden, die aber zu den Bewohnern des Feuers gehören. Sie werden nur für einen Augenblick in das  Feuer getaucht und dann gefragt: Habt ihr schon jemals etwas Schönes erlebt? Und sie sagen zu Allah: Nein, sicherlich nicht, o unser Herr. Und dann werden jene herbeigebracht, die im diesseitigen Leben den schlimmsten Prüfungen ausgesetzt waren, Krankheit, Familienprobleme, Mißerfolg, Gewalt, Ungerechtigkeit, Krieg, Armut, was kann man sich noch alles vorstellen? Aber sie gehören zu den Bewohnern des Paradieses. Sie werden nur für einen Augenblick ins Paradies getaucht und dann gefragt: Ist euch jemals etwas Schlimmes widerfahren? Und sie sagen zu Allah: Nein, sicherlich nicht, o unser Herr.
  Deshalb also will ich nicht behaupten, daß ich diese Fahrten über die Meseta  nie vergessen werde. Ich kann nicht anders als Worte so auf die Goldwaage zu legen.
  Aber diese Fahrten waren ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Man fuhr über die absolut flache Ebene, kein anderes Auto weit und breit, und rund herum am Horizont die Berge, hinter denen man das Meer wußte. Und der Himmel war so groß und hoch. "Schauen sie denn nicht auf die Kamele - wie Wir sie geschaffen haben? Und zum Himmel, wie Wir ihn gewölbt haben? Und zu den Bergen, wie Wir sie aufgerichtet haben? Und zur Erde, wie Wir sie ausgebreitet haben? So ermahne denn und erinnere an Gott, du kannst nicht mehr als erinnern und ermahnen. Du hast keine Gewalt über sie."
  Auf jener Fahrt nun mit meinem Bruder kam die Gebetszeit, mein Mann suchte einen geeigneten Platz für unser Gebet. Er fragte mich vorher, ob ich denn die erforderliche rituelle Reinheit für das Gebet hätte, ich bejahte. Als er das Auto geparkt hatte - die kleine Chadidscha schlief tief und fest neben Andi auf dem Rücksitz - und ich aussteigen wollte... verlor ich meine rituelle Reinheit. Man verliert sie zum Beispiel, wenn man auf die Toilette geht, aber auch, wenn man nur Blähungen hat. Dann muß man vor dem Gebet noch einmal die Waschung vollziehen. Wir hatten kein Wasser mehr. So fuhren wir weiter ohne zu beten, füllten an einer Tankstelle Wasser auf und suchten erneut ein geeignetes Plätzchen. Ich verrichtete die Waschung zum Gebet, wobei Sadek mir das Wasser goß, er breitete unsere Gebetsteppiche oder ein Tuch aus, und wir verrichteten unser Gebet. Ich erinnerte mich gar nicht mehr an den Vorfall, mein Bruder aber wohl, und er erzählte ihn mir dann, ja, etwa zwölf Jahre später.
   Was ich noch weiß, wie sehr ich diese Gebete auf der Meseta unter freiem Himmel doch liebte... "Im Namen Gottes, dessen, Der allen barmherzig ist im Diesseits und Dessen Barmherzigkeit im Jenseits für die Gläubigen sein wird. Gelobt sei Gott, Der Herr der Welten, Der allen barmherzig ist im Diesseits und und Dessen Barmherzigkeit im Jenseits für die Gläubigen sein wird. Dir allein dienen wir, und Dich allein flehen wir um Hilfe an. Leite uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht derer, denen Du zürnst und nicht derer, die in die Irre gehen." Und: "Schauen sie denn nicht auf die Kamele - wie Wir sie geschaffen haben? Und zum Himmel, wie Wir ihn gewölbt haben? Und zu den Bergen, wie Wir sie aufgerichtet haben? Und zur Erde, wie Wir sie ausgebreitet haben? So ermahne denn und erinnere an Gott, du kannst nicht mehr als erinnern und ermahnen. Du hast keine Gewalt über sie."
  Szenenwechsel, Jahre später in Deutschland, mittlerweise hatten wir fünf Kinder, und dann kam Ibrahim dazu, und es wurden es sechs. Recht beengt lebten wir in einer zu kleinen Wohnung in München, das Geld war knapp. Trotzdem kam uns mein Bruder besuchen. Da schrieb ich dann mein erstes Gedicht für ihn, und auch gleich ein zweites.


Nachtrag zu deinem Besuch
Für Andi, meinen einzigen leiblichen Bruder

Bildung
ist schon was Schönes.
Aber es kommt doch auch noch drauf an,
was da wozu gebildet wird
und für wen.

Der Ursprung der Schulpflicht
lag in Preußen.
Der Bedarf des Staates nach Beamten
sollte gesichert werden - wußtest du das?
Du, sei mehr als eine Ware
auf dem Arbeitsmarkt.

Sauberkeit und Ordnung
sind hohe, gute Werte,
doch sie sind nicht das Höchste,
eine Wohnung ein Museum,
Besucher nur spärlich,
Platz für Kinder schon gar nicht?

Überhaupt, das mit den Kindern -
ein Kind zu haben,
das sei: eine Tatsache schaffen?
Auch so schaffst du eine Tatsache,
dein Leben geht vorbei.
Einmal wirst du alt sein,
das geht schneller, als man denkt,
alt, aber kein Opa.

Diene nicht weiter
den Götzen dieser Gesellschaft,
die untergehen wird,
wie andere vor ihr auch.
Daß sie grausam und hart ist,
trotz all der gepflegten Parks,
der Blumenbeete
und der Gartenzwerge,
das weißt du selber gut genug.
Nicht selber grausam und hart zu werden
- dazu mögen Hanfblätter ein Mittel sein,
aber kein gutes,
du weißt es wohl.
(Was, wenn sie alle sind?)

Vergiß deine Sehnsucht nicht
nach dem Weichen,
danach, sanft behandelt zu werden,
liebevoll und gut,
gerecht und nachsichtig,
und verzweifle nicht,
wenn du sehen mußt,
daß du ja selbst oft genug nicht so bist.

Der so ist,
ist Gott.
Niemand hat Gott für sich gepachtet -
keine Kirche und auch sonst niemand,
sondern Er ist
ganz einfach Gott,
der Schöpfer von Himmel und Erde,
Gott.
Allah.

Wenn du dir eingestehst,
daß du Ihn brauchst,
verlierst du nichts.
Dich Ihm zu unterwerfen
macht dich frei und stark.
Zu sagen: "Lieber Gott"
ist gar nicht lächerlich,
auch wenn Religion schon so oft
benutzt wurde,
um Menschen hinters Licht zu führen.

Gott verlangt nichts von dir,
was über deine Kräfte ginge.
(Im Gegensatz zu den Menschen,
die kriegen nie genug.)
Und Er hilft dir, wirklich zu tun,
was in deinen Kräften steht.

Gott ist gut -
die Menschen sind es nur bedingt.
Laß uns uns bemühen, gut zu sein,
mit Gottes Hilfe.
Laß uns bitten, daß das,
was zwischen dir und mir ist und geschieht,
gut sein möge,
mit Seiner Erlaubnis.

Wo Güte ist,
da ist Platz für Kinder.
Kinder sind ein Geschenk von Gott.
Nimm es an.
Man schafft sie sich nicht an
wie ein Auto. Oder auch nicht.

Eine gute Ehe -
da wäre Platz für Kinder.
Wieviele gute Ehen kennst du?
Wo sollte die herkommen?
Gott hat zu allem die Macht.

Gott kann dich reich beschenken.
Er verteilt, bestimmt,
in Seiner Weisheit.

Ich will dir nichts verkaufen,
mir auch nicht deine Anerkennung erwerben,
sage nicht: Folge mir, mach´s so wie ich.
Ich mache es ja selber so gut nicht.
Dieses ungelenke Gedicht,
und wenn du hier vor mir stehst,
da fehlen mir die Worte ganz.

Nur so als Hinweis:
Es gibt da einen, dem zu folgen es sich lohnt,
auch wenn er verspottet,
als Lügner und als Spinner bezeichnet wurde.
Und wird.
Er war weder dieses noch jenes,
Er war ein Prophet,
wie vor ihm Jesus, Mose, Abraham
und viele andere.

Propheten, du,
die gab es wirklich.
Gott ließ die Menschen nicht im Stich.
Der Mensch ist kein Tier,
stammt auch nicht vom Affen ab,
komm mir nicht mit der heiligen Wissenschaft,
die Wissenschaft muß uns dienen,
nicht wir ihr,
wenn sie heilig ist,
ist sie ein Götze.

Der Mensch hat eine Sprache,
die weiter reicht
als die Tänze der Biene
und was sonst noch so herangezogen wird
- Wunder der Natur, nein, des Schöpfers -,
doch der Mensch spricht und denkt,
nicht eine Sprache,
viele,
gelobt sei Gott,
nein, der Mensch
ist nicht ein besseres Tier.
Und Sprache macht aus
die Verbindung zwischen dir und Gott,
du kannst sagen: "Lieber Gott!",
wenn du es kannst...

Und Gott hat sich offenbart
über die Sprache.
Tatsächlich.
Darf ich dir da etwas erzählen,
worüber ich mehr weiß als du,
der Koran, das ist wirklich Gottes Wort,
ich bin mir da ganz sicher,
bitte, glaub mir doch,
du weißt doch,
Sprache, das ist wirklich mein Metier,
gelesen habe ich schon immer,
Leseratte, die ich war,
wie verrückt -
bitte, glaub´ mir doch.
Ich red´ da über etwas, das ich weiß,
und möchte so gern,
daß dich dieses Wissen erreicht...

Das andere,
daß ich Gott erreichen kann mit meinem Wort,
das weiß ich auch.
Inzwischen,
zeitweise war ich mir da
auch noch nicht so sicher.

Wenn du Gott bittest,
aus dem Wissen heraus,
daß keiner sonst dir helfen kann,
auch du selbst dir nicht,
wenn du ihn so bittest,
wirklich ernst gemeint,
in aller Ehrlichkeit -
nein, fühl´ dich nicht lächerlich,
all die, die über dich lachen würden,
sehen dich ja nicht dabei,
doch Gott sieht dich wohl.
Und hört dich.
Und erhört dich.

Gott ist barmherzig.
Barmherzig, barmherzig.
Auch wenn das Wort so altmodisch ist.
Und wir brauchen Seine Barmherzigkeit.
Barmherzig, Sanft,
Gerecht und Weise,
Liebevoll.

Vergelt´s Gott
Das Gefühl, dir etwas schuldig zu sein.
Als ihr beide da am Flughafen standet,
dein liebes Grinsen,
ich euch meine zwei frühgeborenen Jüngsten
in die Arme drücken durfte,
  - das war schon was.
Und nicht das einzige.

Vergelt´s Gott.
In diesem Fall ist das nicht nur so ein anderes Wort für Dankeschön.
Das Wissen darum, daß da wirklich etwas vergolten wird, von Anderer Seite,
ganz unabhängig davon,
ob ich´s dir vielleicht mal vergelten kann oder nicht,
dieses Wissen,
das wünscht ich dir als Lohn.

  Drei Jahre später besuchte mein Bruder uns im Sudan. Da war Musa noch nicht auf der Welt. Plötzlich hatten mein Bruder und ich uns so viel zu sagen, die Worte fehlten mir nicht mehr, es war, als wäre ein Damm gebrochen. Verwundert schaute mein Mann zu, wie wir uns da auf Deutsch unterhielten, was wir uns denn plötzlich alles zu erzählen hätten? Nun, ihm sollte es recht sein, er ließ uns halt zu zweit reden... Als mein Bruder abgereist war, konnte ich nicht anders, ich mußte dieses lange Gedicht schreiben, es war wieder ein Nachtrag zu seinem Besuch.

  Besuch meines Bruders
Und da war er schon wieder,
dieser Übermut,
der dem Menschen so eigen ist.

Allah
hatte mich so viel
Barmherzigkeit von Sich
spüren lassen.

Es ward Ramadan.
Ramadan, und ich lebe noch,
lebe in einem Land,
über dem der Gebetsruf frei
ertönt,
im Kreise meiner Familie,
in der bis jetzt
noch keiner fehlt.
Wie schnell sind die Kinder herangewachsen,
tapfer
fasten sie mit,
das ist keine Frage.
Ihre Freude, Übermut fast,
die ersten Tage nach dem Fastenbrechen,
sie haben es geschafft -
Kinder -
ihr Übermut ist keine Sünde.

Das eigene Glück,
wenn das Fasten ganz leicht fällt,
das gegenseitige Verständnis,
wenn die Anstrengung spürbar wird.
Dann ward mir
die Vollzeit - Haushaltshilfe beschert,
mitten im Ramadan,
lange hatte ich eine gesucht,
mein Alltag wurde
angenehm.
Zeit und Ruhe
Koran zu lesen,
das größte Geschenk.

Auch
der Besuch meines Bruders
wurde Wirklichkeit
im gesegneten letzten Drittel
des Ramadan.
Bestimmung schien
spürbar zu werden.

Gute Gespräche. Endlich.
Diesmal
fehlten mir die Worte nicht.
Gepriesen sei Gott.

Fasten.
Gebete.
Koran.
Alles schien zu stimmen.
Wie leicht denkt der Mensch:
Das steht mir zu.

Wie sicher war ich mir:
Allah erhört mein Gebet
gleich hier und heute.
Doch verdient
hatte ich es nicht.
Ich hatte begonnen,
zu träumen...

Das Fest des Fastenbrechens
fiel früher als erwartet,
wir würden beten,
jenes gemeinsame Gebet
im Sand
unter freiem Himmel,
blitzeblau,
am frühen Morgen,
strahlende Sonne,
die breite Reihe der Männer,
in den weiten, weißen Gewändern,
die Reihe der Frauen
dahinter,
mit den Kindern,
alle festlich gekleidet,
bunt und farbenfroh,
auf einem der weiten Plätze
dieser friedlichen Stadt,
die Ansprache nach dem Gebet.

Noch jedes Mal
hatte ich geweint
in diesem Gebet
am Ende des Ramadam,
geweint vor Glück,
Muslim zu sein,
in dieser Reihe eingereiht zu sein,
geweint vor Glück
und Dankbarkeit
gegen Gott,
Der so Groß ist.

Wir würden beten
noch vor dem Abflug meines Bruders
am Nachmittag,
o Allah,
wenn Du ihm doch
das Herz öffnen würdest
für den Glauben an Dich,
o Allah,
wenn es doch
Wirklichkeit würde,
mein Bruder
Muslim,
o Allah --
die Vorstellung,
auch ihn
in dieser Reihe stehen zu wissen.
O Allah!

Zum ersten Mal
empfand ich Vorfreude
auf das Fest des Fastenbrechens
statt der Traurigkeit,
daß der Ramadan zu Ende ging. Traurigkeit,
wie all die Jahre zuvor,
daß er vorbei war,
was nicht getan war
an guten Taten
nicht mehr getan würde,
vorbei.

Und der Traurigkeit,
daß der Festtag
unter den Menschen, von denen ich abstamme,
unter den Menschen, unter denen ich aufwuchs,
in dem Land, aus dem ich komme,
ganz gewöhnlicher
Alltag,
Arbeitstag,
ist.
Ramadan ging vorbei,
und sie wußten es
noch nicht einmal,
ob sie nicht
vielleicht
manchmal
doch etwas spürten vom Segen,
der in dieser Zeit liegt?

Die Traurigkeit der Trennung,
die der Preis war dafür,
in dieser Reihe zu stehen,
doch nein, kein hoher Preis,
gelobt sei Allah.
Gelobt sei Allah.

Gelobt sei Allah.
Traurig
sollte ich grundsätzlich
nur sein über mich selbst,
meine Fehler.

Doch ich
empfand Vorfreude,
Vorfreude auf das Fest und
Freude über die Vorfreude,
zum ersten Mal nicht
Traurigkeit,
mein Bruder war ja da.
Voll Schwung
brachte ich die Wohnung  auf Hochglanz,
so gehört das doch für einen Festtag,
den Koran
legte ich auf die Seite,
nach oben,
backte für die Gäste, die erwarteten,
Plätzchen, ganze Berge.

Mein Bruder
macht sich nichts aus
Kuchen und Süßkram.
Als er sauer wurde
angesichts meiner
Vorbereitungen,
keine Zeit für ihn,
das war doch sein letzter
Tag hier bei uns,
da merkte ich es:
Das war er schon wieder gewesen,
der Übermut.
Gott hatte mir gegeben,
zu sicher war ich mir gewesen,
daß Er noch mehr geben würde
 - den ersehnten
Islam meines Bruders -
hatte vergessen, daß
es darum gar nicht ging,
sondern darum, richtig zu handeln,
so zu handeln, wie es der Prophet gelehrt hat:

Den Gast ehren.
Sich um seine Anverwandten kümmern.
Den Islam erklären.

Reue.
Ich hoffe, daß Allah sie annahm.
Ein letztes gutes Gespräch mit meinem Bruder.
Das beste.
Muslim wurde er nicht.

Zum Festtagsgebet
kamen wir zu spät.
Die Reihe der Frauen
war total krumm,
zu spät gekommen
war das nicht mehr zu ändern.
Mein Gebet war so schlecht,
ob Allah es annahm
sehr fraglich.

Der restliche Tag
 - der letzte Tag mit meinem Bruder -
belanglos nett,
Abschied,
jetzt müßt ihr aber los,
daß ihr rechtzeitig am Flughafen seid,
nein,
mein Bruder
war nicht Muslim geworden.

Allah unser Schöpfer
bestimmt,
nicht wir.
Tut, was Er will.
Es ist Seine Schöpfung,
niemandem
ist Er Rechenschaft schuldig.
Wer Rechenschaft ablegen muß,
das sind wir.

Den Geraden Weg weitergehen.
Keine Zeit verlieren.
Das Leben ist kostbar.
Es geht vorbei.
Sich konzentrieren,
tun,
was zu tun ist,
vorwärts.

Zum Islam aufrufen,
erklären
ist eigentlich nicht genug.
O ihr Menschen,
dient Gott,
unterwerft Euch Ihm,
Ihm allein,
nutzt euer Leben,
schmeißt es doch nicht einfach so
weg.

Das mit dem Jenseits stimmt,
ich habe da
genaue Information.

"Der Koran liegt uns heute so vor, wie ihn die Zeitgenossen Mohammeds aus dessen Munde vernahmen", bestätigt Rudi Paret, Orientalistikprofessor in Tübingen, kürzlich verstorben. Nachdem von Seiten der Orientalisten - die ersten waren übrigens Jesuiten - jahrhundertelang versucht worden war, das Gegenteil zu beweisen.

Ich selber
weiß das noch mal anders,
tiefer,
in mir,
ohne daß ich da
wissenschaftliche Argumente
herbeiziehen müßte,
weiß,
daß der Koran
unverändert
ist,
unveränderlich bleibt,
der Koran, Gottes Wort -
auswendig gelernt,
rezitiert,
Tag um Tag, Jahr um Jahr,
wie vor mir
Tausende
- Millionen? Milliarden! -
Gläubiger,
ein Ruf,
den wir mit dem Herzen
hören dürfen.

Die Schönheit Gottes Wortes
weiß ich dir nicht zu beschreiben,
nein, Dichtung
ist das ganz bestimmt nicht,
Gott bewahre! Wirklich nicht,
wie natürlich auch Mohammed
kein Dichter war.
Friede sei mit ihm.
Kaufmann war er,
lesen und schreiben konnte er nicht,
das war damals noch was besonderes.
Waise, doch aus bester Familie,
sein guter Charakter,
seine edlen Umgangsformen
führten zu Ansehen und Erfolg
in Mekka,
dem Mittelpunkt der Arabischen Halbinsel,
die ihrerseits so etwas war wie eine
"Dritte Welt"
zwischen den blühenden, hochentwickelten Kulturen
Roms, Persiens und Indiens.

Daß es Gott gab,
daran herrschte unter den Arabern
kein Zweifel,
doch sie dienten Göttern, Götzen,
selbstgemachten,
fürchteten deren Fluch,
erhofften deren Gunst,
beteten sie an und baten sie.

Als Mohammed die erste Offenbarung empfang,
war seine älteste Tochter
bereits verheiratet.

Mohammed empfing die erste Offenbarung,
da war er allein
in einer Höhle der Berge um Mekka.
Schon länger hatte er
die Einsamkeit gesucht, doch
das heißt nicht,
daß er nun philosophiert und meditiert hätte,
bis er schließlich seine Gedanken
zu einem präsentablen Ergebnis
geordnet hätte.

Das Erlebnis der ersten Offenbarung
war ungeheuerlich,
erschütternd,
erfüllte Mohammed mit Furcht,
mit der Furcht, nicht tragen zu können,
was ihm da auferlegt wurde.

Chadidscha, Mohammeds Frau,
war eine Frau,
wie es sie in der ganzen Menschheit
nur sehr wenige gegeben hat.
Als Mohammed aus den Bergen
nach hause kam, berichtete,
zutiefst erschüttert,
blieb ihr Denken klar,
ihr Blick ungetrübt.
Sie wußte: Ihr Mann war gut,
besser als alle anderen.
Gott würde ihn nicht im Stich lassen.
Mohammed war
der letzte Gesandte Gottes an die Menschheit,
erwartet von Juden wie von Christen,
die ihn in ihren Büchern beschrieben fanden.
Ihr Mann Mohammed
war dieser letzte Prophet,
Chadidscha war die erste,
die an ihn glaubte.

Es folgten
die jungen Menschen in der Familie,
die beiden Pflegesöhne,
die vier Töchter,
Mohammeds bester Freund,
dann auch weitere, einzelne
der angesehenen Männer Mekkas.

Die Mehrheit des Establishments
wollte von etwas Neuem jedoch
nichts wissen,
Neid war da im Spiel,
Angst um die eigene Rolle,
Treue gegen die Vorfahren,
auf die man so stolz war,
wenn auch zu Unrecht.
Und schlicht und einfach
Hochmut.

Daß Mohammed weder verrückt
noch ein Dichter
noch ein Wahrsager
war,
das  wußten sie schon,
auch, daß er nicht log,
sie kannten ihn schließlich
von klein auf,
er war für Ehrlichkeit
und Redlichkeit
bekannt.
Doch loslassen,
was sie hatten,
Mohammed folgen -
sie wollten es nicht.

Jene, die ihm folgten,
waren mutige Menschen.
Sie wußten nicht,
was vor ihnen lag
auf diesem Weg, dem Geraden,
den sie einschlugen.
Den Koran hielten sie noch nicht in der Hand,
denn er wurde
im Laufe von 23 Jahren offenbart.
Sie wußten,
daß dieser Gerade Weg, zu Ende gegangen,
zu Gott führt,
das allein war wichtig.

Sie wußten nicht,
daß sich der Islam ausbreiten würde,
einst reichen würde von
Spanien bis nach Indonesien,
das hätten sie sich wohl
kaum vorstellen können,
verspottet wie sie waren,
und unterdrückt.
Wer niemanden hatte, der ihn schützte,
keiner einflußreichen Familie angehörte,
der wurde gefoltert und gequält.
So starb Someyya,
eine freigelassene Sklavin,
für ihren Glauben, eine Frau.
Die Zahl der Muslime in Mekka
nahm zu.
Das Establishment
bekam zunehmend Bedenken.
Das Übel
sollte mit der Wurzel ausgerottet,
Mohammed getötet
werden.

Der Gesandte Allahs verließ Mekka
auf Gottes Befehl.

Als ich selber
Muslim wurde,
wußte ich das alles nicht.
Ich hatte mich nie
mit islamischer Geschichte befaßt,
auch nicht mit islamischer Kultur,
studierte andere Sprachen,
mein Blick
ging in eine andere Richtung.

Daß es Gott gab -
den Glauben daran
hatte ich angenommen,
das war ein Entscheidung gewesen,
eine Erlösung,
ein Mich-Beugen
vor der Wahrheit.
Ja, mein Gott,
es gibt Dich, Du bist Mein Schöpfer,
ich Dein Geschöpf,
nicht mehr
und nicht weniger.

Etwas Großes war da geschehen
in mir, etwas Gewaltiges
hatte sich verändert.
Doch mein Leben lief weiter
in den gewohnten Bahnen.
Gott zu bitten
war, was neu war.
Ich bat ihn,
er möge mich
eine gute Christin sein lassen.

Die Theologie-Studenten
an der Heidelberger Uni
hatten nicht viel zu sagen.
Abendmahl auf altkatholisch,
na ja,
das hatte wenig mit mir zu tun.
Im Bibelkreis
fühlte ich mich seltsam.
Einige Stellen im Neuen Testament
gefielen mir ganz gut,
die unterstrich ich,
das war wohl die Bergpredigt,
das mit dem Gottvertrauen.
Wenn von Urchristen die Rede war,
spitzte ich die Ohren,
das
hätte mich interessiert,
doch Genaues
wußte da eigentlich  niemand.

In der türkischen Familie,
auf die ich stieß,
wußten sie es genau:
Ich mußte Muslim werden.
Wie denn? meinte ich erstaunt.
Sich dazu bekennen,
daß Gott Ein Einziger ist,
kein Problem,
doch Mohammed sein Gesandter
- woher sollte ich wissen,
daß das stimmt?

Was sie mir über Gott sagen könnten,
wollte ich wissen.

GOTT IST EWIG.
GOTT IST EINZIG:
ER HAT NICHT GEZEUGT ODER GEBOREN,
UND ER WURDE NICHT GEZEUGT NOCH GEBOREN,
UND NIEMAND IST IHM GLEICH.

Er hat nicht gezeugt und wurde nicht gezeugt...
Jesus Gottes Sohn,
das hatte ich nie geglaubt.
Er hat nicht gezeugt, wurde nicht gezeugt,
ja,
das stimmte ja ganz einfach,
was die da sagten,
so einfach war das.
Diese einfachen Menschen,
eine türkische Gastarbeiterfamilie,
die wußten da etwas -
danach hatte ich gesucht.

Gut, und nun das mit Mohammed?

Sie erklärten mir,
wie es sich mit den Propheten verhält:
Menschen,
beauftragt mit einer Botschaft
an Menschen, immer derselben:
Zu glauben an Gott
und Ihm zu dienen,
ein Prophet nach dem anderen,
historisch greifbar,
und sie bestätigten sich gegenseitig.

Ich wurde Muslim,
am gleichen Tag noch,
sozusagen
ein Kopfsprung, aus Angst vor dem Zögern,
das war schon immer meine Art gewesen.
Ich wurde Muslim.
Das war
Barmherzigkeit von Allah.

Wie wahr
war nun die Wahrheit,
die ich gefunden hatte?
Einzelheiten, die mir erklärt wurden,
erwiesen sich später zum Teil
als unrichig und falsch.

Mit dem Koran
kam ich zunächst
gar nicht zurecht.
Kein Wunder. Was ich las
waren die Worte von Menschen,
die übersetzt hatte,
was sie für Lüge hielten,
und was doch
die Wahrheit ist.

Der Koran
war von Gott gekommen.
Gott hat ihn herabgesandt
auf Seinen Propheten,
der Koran
ist Gottes Wort.

Gott hat ihn
in arabischer Sprache
offenbart.

Wir Deutschen
müssen da vielleicht
kurz schlucken,
Volk der Dichter und Denker,
das wir sind,
stolz auf unsere Sprache,
die wir lieben,
ja sogar
einmal
das Salz der Erde
wollten sein...

Wo war denn
unsere geliebte deutsche Sprache
zur Zeit des Propheten?

Die hocharabische Sprache
ist seit 1400 Jahren
unverändert.

Hocharabisch
erwies sich als lernbar
für mich
- Barmherzigkeit von Allah,
Der gelobt sei.

Der Koran selbst,
der echte, unverfälschte,
originale, arabische,
war dann, was mich hielt
in Augenblicken des Zweifels,
die es durchaus gab.

Wahre Worte,
wonach ich schon, bevor ich Muslim war -
überall gesucht,
sie hier und da auch gefunden hatte,
hier ein bißchen
und dort, verstreut,
doch der Koran nun
rein,
weder vermischt mit Lüge
noch Unwichtigem.

Einfach nur annehmen können,
ohne sortieren zu müssen,
stimmt das nun für mich
oder nicht.
Einfach nur annehmen.
Wo kann man das sonst?
Das Wort der Menschen
ist der Fehler voll,
der Unwahrheit,
bleibe wachsam.
Doch der Koran -
annehmen,
das läßt wachsen.

Die Schönheit Gottes Wortes
weiß ich dir nicht zu beschreiben,
auch nicht,
wie es ist,
diesen Glauben im Herzen zu tragen,
erlebt zu haben,
wie er wuchs,
klein, schwach, von Zweifeln geplagt,
dann stärker wurde.
Wenn du es wirklich
wissen willst,
mußt du nicht erst Arabisch lernen.
In dir,
um dich
sind Zeichen genug.
Du mußt Muslim werden,
ja,
entscheiden,
daß du sie annehmen willst:
Gottes Barmherzigkeit.
Entscheiden,
daß du ihn einschlagen willst,
den Weg zu Gott.
Mein Glaube eine feste Burg?
Die Frage war noch offen.
Fast möchte ich meinen:
Das stimmt so nicht.
Mein Glaube ist ja kein
Gedankengebäude.
Mein Glaube ist ein Geschenk von Allah,
ich hoffe, ich erweise mich
dessen würdig.
Wenn ich nicht aufpasse,
könnte er mir wieder abhanden kommen,
dieser Glaube, doch
das sei Gott vor.

Es kommt darauf an,
sich für das, was richtig ist,
zu entscheiden,
immer neu.

Möge Gott uns leiten.
Leitung zu folgen,
Rechtleitung anzunehmen,
das ist kein Krücke,
nur Klugheit
und Sieg darüber,
mehr sein zu wollen, als man ist.
Gewonnen haben wir erst,
wenn wir Gott ergeben
gestorben sind.

  Und dann wurde mein Bruder doch Muslim. Das war bei seinem letzten Besuch ein Jahr darauf, Musa hatte gerade begonnen, das Stehen zu üben und zog sich am Gitter seines Kinderbettchens hoch.
  Wieder hatten wir uns so viel zu sagen, und mir schien, als sähe ich einer Pflanze zu, die niedergedrückt worden war und sich nun ganz allmählich aufrichtete. Einmal kam Fatima aufgeregt zu mir und flüsterte mir ins Ohr: "Mama, Mama, Onkel Andi hat sich von uns zeigen lassen, wie man die Waschung zum Gebet verrichtet!" Ich ließ das erst mal auf sich beruhen, sagte nichts. Dann kam der Tag, an dem ich ganz früh am morgen, genauer gesagt am Ende der Nacht, vor Anbruch der Morgendämmerung und dem Beginn der Zeit für das Morgengebet  über den Hof zur Toilette ging. Da stand mein Bruder, und auf meinen erstaunten Blick, was er denn zu dieser unmöglichen Zeit hier wolle, meinte er etwas von wegen Durchfall. Am nächsten Tag um die gleiche Zeit stand er wieder da! Ja, also, verbarg er seine Verlegenheit hinter einem etwas ruppigen Ton, ob ich ihm denn nicht vielleicht mal zeigen könne, wie das Gebet denn geht?
  Jetzt war ich doch überrumpelt und wußte so schnell gar nicht, was nun richtig war. Eigentlich muß man doch erst vor zwei Muslimen das Glaubensbekenntnis ablegen, damit wird man Muslim. Da muß man sagen: Ich bestätige, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und daß Mohammed der Gesandte Allahs ist. Auf Arabisch: Aschhadu an la ilaha illa llah wa aschhadu anna muhammadan rasulullah. Aber  jedenfalls, ob er denn schon die Waschung für das Gebet gemacht hätte? Ja, ja. Ich zeigte ihm dann, wie das Gebet geht. Das war schwieriger, als ich gedacht hätte. Längst machte ich das alles automatisch und mußte erst mal nachdenken, um es langsam und verständlich auseinanderzuklamüsern. Ich hatte leider kein Büchlein oder eine schriftliche Anleitung bei der Hand und schon gar nicht eine Kassette wie die, mit der ich fünfzehn Jahre zuvor selbst das Beten gelernt hatte.
  Auch für meinen Mann kam die Neuigkeit unerwartet. Wohl gratulierte er meinem Bruder gleich strahlend, doch dann mußte er erst mal kurz überlegen und kam zu dem Schluß, daß er ihn nun am besten mit in die Moschee nehmen müsse, damit er dort in aller Öffentlichkeit sein Glaubensbekenntnis ablege. Darauf war mein Bruder nun überhaupt nicht scharf, ging dann aber doch mit. Die allgemeine Freude und Herzlichkeit, die ihm dann in der Moschee entgegengebracht wurden, fand er womöglich ganz schön, meinte aber gleichzeitig auf der Hut sein zu müssen. Auf keinen Fall wollte er sich vereinnahmen lassen, sich für irgendeine Sache gewinnen lassen, die nicht die seine gewesen wäre, es ging ihm um Gott, um seine Beziehung zu Gott, das mußte ehrlich bleiben. Ich verstand ihn gut.
  Sadek schenkte ihm seine weiße Dschelabija, sie sah toll an ihm aus. Ich konnte den Blick gar nicht mehr abwenden, wollte meinen Bruder nur noch anschauen, so ging das nicht! Mir wurde bewußt, daß es nicht die Dschelabija war. Das Gesicht meines Bruders strahlte wie der Mond in einer klaren Vollmondnacht. Das war kein Wunder, oder doch. Wenn ein Mensch sich der Wahrheit beugt, den Islam annimmt und Muslim wird, vergibt Gott ihm in diesem Augenblick alle Sünden - von daher das Strahlen, das Licht...
  Wie sollte es nun weitergehen? Mir wurde bewußt, wie anders doch die Situation meines Bruders war als meine, fünfzehn Jahre zuvor. Damals hatte Allah meine Gebete erhört und mir einen guten Mann geschenkt. In seinem Schutz hatte ich außerhalb Deutschlands leben und in Ruhe alle lernen können, was ich brauchte, um meinen Islam zu leben. Es war mir eine Erlösung gewesen, den widerlichen, arroganten Studentenchargon der vorangegangenen Jahre hinter mir zu lassen und mich nunmehr, wenn auch mühsam, mit meinem Mann auf Spanisch und Englisch über das Wesentliche zu verständigen. Ich lernte Arabisch,  und mit meinen Sprachkenntnissen wuchs in mir auch ein neuer Mensch.
  Mein Mann meinte, Andi solle doch zu uns in den Sudan kommen. Als deutscher Staatsbürger könne er da bestimmt ganz leicht gut verdienen! Da war sich mein Bruder nicht so sicher. Er war eine solide, bodenständige Natur. Den ganzen Tag nur Arabisch um sich hören, nö, wirklich nicht, das wurde ihm ja schon im Urlaub zu viel. Also gut. Eigentlich könnte er doch aber in Deutschland für meinen Mann Gebrauchtwagen aufkaufen, so nebenbei, so viel Arbeit sei das gar nicht, als lukrativer Nebenjob? Mein Mann brauchte dringend jemanden, der ihm seinen immer unzuverlässiger werdenden Geschäftspartner in Deutschland ersetzt hätte. Nur übersah er, daß mein Bruder keinerlei Ader fürs Geschäftemachen hatte und auch nicht das Zeug zum Geschäftsmann, er war gelernter Winzer, dann gelernter Zimmermann und nun schließlich Lehrer für Kunst, Werken und Sport. Und eine große Begeisterung für Autos hatte er auch nicht. Ich versuchte, das meinem Mann verständlich zu machen.
  Ich meinerseits fand, mein Bruder müsse sich nun ans Koranlernen machen. Ich würde ihm alles beibringen! Nun, also zuerst mal wollte er sich das mit dem Gebet aufschreiben. Ich versuchte ihm, die Aussprache so gut ich sie selbst inzwischen, nach vielen Jahren, konnte, genau zu erklären, also, das "Ha", das kommt ganz vom Ende im Mund, so als faucht man ein bißchen, ja ein normales "ha" wie das deutsche, das gibt es auch noch, und... Puh, das wurde zu viel. Mein Bruder bemühte sich sehr, nicht die Geduld zu verlieren. Also bitte, ich sollte ihm das jetzt einfach genau und deutlich vorsprechen, ganz langsam bitte, und er würde sich das dann so aufschreiben, wie er es hörte! Nun mußte ich mich zusammennehmen und es ihn einfach so schreiben lassen, wie er es hörte, ja, ja, stimmte schon so ungefähr. Bis wir einen Teil des Gebetes so durchgearbeitet hatten, waren wir beide geschafft und vertagten den Rest auf eine nächste Sitzung.
  Mein Bruder flog nach Deutschland zurück, natürlich ganz normal in Jeans und Hemd, die Dschelabija kam in die Tasche. Subhanallah, Allah bestimmte es so: Genau als er noch auf dem Rückweg im Zug von Frankfurt zu seinem Wohnort saß, passierte der elfte September. Wir saßen im Sudan vor dem Fernseher und versuchten, zu begreifen, was da geschah. Das wurde nun ein bißchen viel auf einmal, erst der ersehnte, aber doch unerwartete Islam meines Bruders und nun das...
  "Meinen denn die Menschen, es sei damit genug, daß sie sagen: Wir haben den Glauben angenommen, ohne daß sie auf die Probe gestellt würden? Mit Sicherheit wird Gott jene in Erfahrung bringen, die es ehrlich meinten, und Er wird in Erfahrung bringen, wer gelogen hat."
  Mein Bruder würde seinen Weg selbst finden müssen und selbst gehen müssen. Allah würde ihn nicht im Stich lassen.

Papa ist da
  „Papa ist gekommen,“ sagte mir Fatima mit leiser Stimme. „Er sitzt vor dem Kühler und sagt, da rührt er sich jetzt nicht mehr weg, weil ihm so schrecklich heiß ist.“
  Ich drehte meine rechte Hand mit der Handfläche nach oben und drückte alle fünf Finger ausgestreckt zusammen, so daß sie aussah wie eine große Blütenknospe. Bei den Spaniern war mir diese Geste zuerst begegnet. Bei ihnen bedeutete sie: „Da sind oder waren ganz viele Leute, es war gepfropft voll.“ Das war für das spanische Sozialleben eine wichtige Information. Unter den Arabern dann hatte ich mir die Geste auch selbst angewöhnt. Bei ihnen bedeutete sie lustigerweise etwas ganz anderes, nämlich: „Einen Augenblick Geduld, bitte.“
  Wohl hatte ich die Hoftüre gehört. Ich saß mit Hamudi in der vorderen Diele auf der Bettkante. Das Bett stand nur so da, um den großen Raum zu füllen, nie schlief jemand darauf. Heute türmte sich auf ihm die Wäsche, denn der Himmel war bewölkt. Eventuell würde es nachts regnen, da hatten wir sie lieber gleich abgehängt, es war ja schon alles trocken.
Hamudi und ich waren dabei, kurz den neuesten Abschnitt seiner Sure zu wiederholen. Am nächsten Tag hatten sie in der Schule Koran. Hamudi schien ziemlich viel Respekt vor dem Koranlehrer zu haben. Als ich Fatima geschickt hatte und sie versuchte, dem Lehrer zu erklären, daß Hamudi so etwas wie eine Sprachbehinderung habe und er doch bitte ein bißchen gnädig mit ihm umgehen solle, hatte er gemeint: „Papperlapapp! Der Hamudi spielt bloß gern, das ist alles.“ Einmal hatte er ihm eine Bemerkung ins Heft geschrieben, was Hamudi ganz dringend auswendig lernen müsse. Daraufhin hatten wir das ganze Wochenende – Donnerstag und Freitag – fleißig geübt. Daß weniger oft mehr ist, hatte ich inzwischen begriffen. Lieber die Kinder mehrmals am Tag kurz rannehmen und dann wieder spielen lassen, als ihnen in einer Riesensitzung die Geduld überzustrapazieren. Der Lehrer hatte ihn dann sehr gelobt, obwohl Hamudi die Verse nur einigermaßen konnte. Offensichtlich hatte er Fatima doch verstanden. Hamudi strengte sich sehr an. Er wollte, daß der Lehrer mit ihm zufrieden sei.
  Ganz sicher, so dachte ich, hatte er, genau wie ich, die Hoftür gehört und nun Fatimas leise Worte. Aber er reagierte nicht, machte ganz selbstverständlich weiter mit dem ihm so eigenen Ernst, es fehlten noch ein paar Verse. Das wollte ich nicht stören. Als er zuende rezitiert hatte, standen wir auf und gingen in die mittlere Diele.
  Mein Mann saß auf der Baumwollmatratze vor dem Kühler, halb auf dem Po, halb auf dem Rücken, die Beine angewinkelt. Musa saß auf seinem Schoß und ließ sich Papas Oberschenkel als Rückenlehne gefallen. Er trug Vaters Stoffhut übergestülpt, nur sein Kinn schaute heraus. Mein Mann hatte sich einen kleinen roten Bleistiftspitzer ins linke Auge geklemmt (wo kam denn der jetzt her – wir hatten doch vor kurzem verzweifelt nach einem Spitzer gesucht) und war offensichtlich am Faxenmachen für die Kinder.
  Abudi saß neben ihm auf der Matratze und stand sofort artig auf. „Komm, Mama, setz dich.“  Hamudi legte gleich loß: „Hast du uns die Spitzer und die Radiergummis mitgebracht?“ „He,“ sagte ich zu ihm. „So schnell geht das nicht. Er wußte doch noch gar nicht, daß wir welche brauchen.“ Es war erst etwa zwei Stunden her, seit wir festgestellt hatten, daß keine mehr da waren und beschlossen hatten, deren Bedarf anzumelden.
  Ich sagte: „Assalamu aleikum. Wie geht´s?“ und setzte mich neben meinen Mann auf die Matratze. Abudi setzte sich vor mich auf den Boden. Chadidscha sagte: „Wir haben Papa grad erzählt, daß Musa beim Abendessen richtig `chubs` gesagt hat. (`Chubs` ist arabisch für Brot.) Da hat Papa Musa gefragt: `Chubs?`, und Musa hat zum Eßtisch gezeigt! Er hat alles genau verstanden!“ Mein Mann sagte: „Assalamu aleikum. Puh, heute bin ich den ganzen Tag bloß mit dem Auto unterwegs gewesen.“
  Musa wiegte sich mit dem Oberkörper und stieß mit den Beinen, als wollte er sagen: „Los, Papa, mach noch mehr Faxen!“ Mein Mann sagte: „Miäs? Miäs?“ Das ist arabisch für Ziegen. Musa wollte gleich zeigen, daß er das sehr wohl auch verstand und krabbelte von Vaters Schoß herunter. Neben dem Wasserkühler führte eine Tür in den hinteren Hof, in dem unsere Tiere – ein Gazellenpärchen, die Ziegen, Hühner und jede Menge Katzen – lebten. Wie alle Türen in unserem Haus bestand sie unpraktischerweise aus einem eisernen Rahmen und mehreren Pressglasscheiben. Die unteren waren bereits zerbrochen, da war der Rahmen leer. Wenn es mittags ordentlich heiß war und wir einfach ein riesengroßes, rundes Tablett auf den Boden stellten, um so direkt vor dem Kühler zu mittag zu essen, streckten die Ziegen ihre Köpfe zur Türe herein. Es sah aus wie auf alten Gemälden, idyllisch. Nur, daß Musa ihnen dann manchmal großzügig etwas von unserem Mittagessen abgab, wenn wir nicht aufpaßten.
  Jetzt ging Musa zur Tür. Er hatte Papas Stoffhut vom Kopf gezogen, um etwas zu sehen. Und schwups, warf er ihn durch die Öffnung, die die zerbrochenen Scheiben hinterlassen hatten, hinaus zu den Ziegen. Direkt neben der Tür saßen die Hühner auf einer Stange unter dem Kühler und schliefen schon. Ob sie wohl auch im Schlafen kackerten? Falls ja, hätte es sie sicher wenig interessiert, ob gerade Vaters Stoffhut unter ihrer Stange lag... Mein Mann stand schnell auf: „Mein Hut!“ und angelte sich die Mütze. Früher wäre er wohl sitzen geblieben und hätte gesagt: „Macht nichts!“ Aber mit der Zeit war der Schaden, der durch derartige großzügige Gelassenheit entstanden war, doch viel geworden.
 Er setzte sich wieder hin. Vor ihm standen Chadidscha und Fatima. „Ma scha Allah, Allah hat das so gewollt! Wie hübsch Chadidscha geworden ist“, dachte ich. Und: „Fatima ist fast genauso groß wie sie, obwohl die beiden drei Jahre auseinander sind.“ Safia saß auf der anderen Seite neben meinem Mann. Sie erzählte etwas Abstruses, das niemand verstand, mit ulkiger, keckeriger Stimme. Ich sagte irgendetwas wohlwollend Bedeutungsloses, damit ihre Erzählung einen Abschluß fände und nicht so unverstanden einsam im Raum stehen bliebe. „Typisch weibliches Gesprächsverhalten, natürlich“, dachte ich. Und dann: „Na und?“
  Abudi hatte sich gegen meine Beine gelehnt, und ich kraulte ihm den Kopf. Heute war es harmonisch gewesen zwischen uns. Obwohl er – wie fast immer – keine Hausaufgaben aufhatte, hatte ich ihn in Ruhe gelassen. Er war am Vortag so gut gewesen im Koran, und am Tag zuvor im Rechnen, fürs Lernen auf die nächste Klassenarbeit am Ende der Woche war es noch zeitig. Wenn Faxen für die Kleinen gemacht wurden, wünschte sein Vater von ihm Zurückhaltung, konnte es nicht ausstehen, wenn Abudi sich in den Mittelpunkt spielen wollte. Die Faxen waren für die Kleinen. Abudi hatte seine eigene Rolle, wenn er zum Beispiel als einziger und weil er der älteste war, mit Vater fort durfte, wenn sie zu zweit zum Vogelmarkt gingen, er mitdurfte ins Geschäft oder dabeisitzen, wenn Vater Besuch hatte. An meine Beine gelehnt war Abudi schön still und ließ sich den Kopf kraulen.
  Plötzlich begann Hamudi zu schreien und mit den Füßen nach Ibrahim zu stoßen. Mein Mann wollte ihn anfahren, doch ich begriff, daß Ibrahim angefangen und zuerst mit den Füßen gestoßen hatte, und ging schnell beschwichtigend dazwischen: „Also hör mal, Ibrahim, du kannst doch nicht einfach nach Hamudi mit den Füßen stoßen!“ Ibrahim rollte sich zwischen mir und meinem Mann auf der Baumwollmatratze zusammen. „Hamudi hat mich gestört!“ Wo kam das nun plötzlich her? Ibrahim war den ganzen Nachmittag so vergnügt gewesen, immer wieder waren sich seine Mundwinkel und seine Ohrläppchen fast begegnet, dieses sein so unbeschreiblich tolles Lachen! Ach so. Er war wohl eifersüchtig auf Musa, der inzwischen wieder auf Vaters Bauch thronte und seine Position in vollen Zügen genoß.
  Bis sie ein Ende fand. Mein Mann stand auf, ging in sein Büro und schloß die Tür hinter sich. Die Kinder ließen sich ohne weiteres zu Bett bringen, ohne Streitereien, ohne Theater.

 Neues, Unbekanntes
    Ich kam nach dem Morgengebet aus meinem Zimmer und Chadidscha war schon schwungvoll am Putzen, zu meinem Erstaunen. Mein Lob dafür ließ sie ohne Kommentar. Dann erinnerte ich mich, daß ihre Freundin zu Besuch kommen würde. Auch ich begann zu putzen, was sollten wir auf die Haushaltshilfe warten. Es würde noch genug Arbeit für sie übrigbleiben. Alles war von Staub überzogen. Wie entspannend war dieser Kampf gegen den Staub, angesichts all meiner Zweifel, ob es richtig war, daß ich all diese vielen Worte aufschrieb, diese Inflation der Worte...
  Es pfiff draußen. Das bedeutete, daß wahrscheinlich gleich ein Müllauto vorbeikommen würde. Das gab es seit einigen Monaten. Es fehlten zwar regelmäßige Zeiten für die Müllabfuhr, aber auch so war es schon ein gewaltiger Fortschritt. Der Küchenmülleimer war bereits geleert, aber im Hof standen noch Tüten mit dem Kehrricht des Hoffegens. Sie waren leicht, die konnte Hamudi raustragen und in den großen Müllsack neben dem Hoftor stopfen. Dann überlegte ich mir, daß wir Abudi doch bemühen mußten. Die Müllmänner würden den Sack ausleeren und ihn ein Stück weiter die Straße hinunter einfach vom Wagen werfen. Wenn wir ihn uns nicht gleich holten, würde ihn sich irgendwer aus der Nachbarschaft nehmen, und wir würden einen neuen Müllsack kaufen müssen.
  Als das Müllauto vorbeigefahren war, hörte ich Abudis und Hamudis Stimmen laut im Hof, als stritten sie sich, ich wollte sie schon schelten. Hamudi kam in mein Zimmer: „Mama, die Männer haben den Sack gestohlen!“ Abudi kam aufgebracht hinterher: „Kannst du nicht still sein?“ Dann erzählte er mir, was er mir vielleicht eigentlich nicht hatte erzählen wollen? Die Müllmänner hätten den Sack so in den Wagen gehoben, daß die Hälfte des Mülls nun vor unserem Haus auf der Straße läge. Die kleine Tüten hätten sie gar nicht mitgenommen, den Müllsack aber wohl. Ich fragte: „Haben sie das absichtlich gemacht?“ „Ja, die machen das, weil wir Weiße sind.“ „Sind das Muslime?“ „Nein, das sind Dschunubis.“ „Nun, du kannst dir überlegen, ob wir Allah bitten, es ihnen heimzuzahlen oder ihnen verzeihen.“ Da war er plötzlich ganz ruhig und nachdenklich.
  Etwas später ging er zum Laden am Ende der Straße, wir brauchten Brot und einen neuen Müllsack. Laut lamentierend kam er zurück. Ein Junge aus der Nachbarschaft habe ihm seinen großen, harten Fußball gegen den Bauch gekickt. Deshalb sei er ihm nachgerannt und habe dabei den neu gekauften Müllsack verloren. Er habe dem Jungen einen Ziegelstein auf den Kopf schmeißen wollen, ja, am liebsten hätte er ihn blutverschmiert vor sich auf dem Boden liegen sehen! „Abudi, das geht aber zu weit!“ Sogar die Erwachsenen seien auf den Streit aufmerksam geworden. Er habe dann bei der Mutter des Jungen geklingelt, um sich zu beschweren, aber die habe ihn gar nicht ernst genommen.
  Es tat mir leid, was Abudi am Vormittag passiert war. Das wußte er auch gut. Um so erstaunter war er dann, als ich ihn trotzdem erbarmungslos in die Zange nahm: Nein, kein Planschen im Schwimmbassin, bis du den Koran endlich gelernt hast und deine Rechenaufgaben gemacht sind, die eigentlich schon am Vortag fällig waren!  - Ungläubig ob so viel Hartherzigkeit von Seiten seiner Mutter wand er sich, wehrte er sich, das konnte doch nicht wahr sein! Doch, es blieb dabei. Die ganze vergangene Woche hatte er schon vor sich hingebummelt. Fatima desgleichen: erst Koran und Rechenaufgaben abliefern, dann Planschen. „Und Musa schläft gerade. Wenn er aufwacht, müßt ihr ihn natürlich mitplanschen lassen... (und auf ihn als den Kleinsten Rücksicht nehmen, weshalb sie darauf nicht gerade große Lust hatten und sich deshalb mit ihren Aufgaben beeilen würden).“
  Fatima fügte sich schnell. Ihre Rechenaufgaben fielen ihr leicht. Abudis waren nicht leicht für ihn, und in seiner Wut darüber, daß Mama diesmal den Machtkampf gewonnen hatte, kriegte er sie natürlich auch nicht hin. Alles war falsch. Das hatte jetzt keinen Sinn mehr, ich mußte in die Küche, kochen, also gut, das Ende von Mutters Strenge. Fröhliches Getobe der Kinder im Wasser vom Vortag, über das sich nachts eine Staubschicht gelegt hatte. Eine rechte Dreckbrühe war das geworden.. Der Staub ist eigentlich nichts Unhygienisches in diesem Sinne, sagte ich mir.
  Am nächsten Tag hatten wir bereits früh am Morgen keinen Strom mehr. Und bald kam auch kein Wasser mehr aus der Leitung. Es fehlte der Strom, um welches zu pumpen. In der Küche schwitzte ich nicht schlecht. Zum Gebet übergoß ich mich mit etwas Wasser aus der Wassertonne, das aber schon zur Neige zu gehen drohte. Ich war müde, hatte ich doch bis tief in die Nacht geschrieben.
  Es war heiß. Die großen Ventilatoren hingen unbeweglich an der Decke. Auch der Wasserkühler, eine Art archäische Klimaanlage, stand stumm und trocken. „Allahu akbar!! Allahu akbar!“ riefen die Kinder begeistert, als der Kühlschrank wieder zu brummen begann und die Ventilatoren sich langsam in Bewegung stzten. Der Strom war wieder da. Schnell, den Kühler einschalten. Und die Wasserpumpe. Gott sei Dank, es gab Wasser in den öffentlichen Leitungen, das wir pumpen konnten.
    Abdullah mußte noch mal ran. Nachdem er aufgegeben hatte, sich zu sträuben, begriff er alles im Handumdrehen und löste die Aufgaben ohne weiteres. Ob man etwas Neues, Unbekanntes verstehen kann, hängt so sehr davon ab, ob man bereit ist, es aufzunehmen. Mit dem Islam ist das auch so.
  Vor Freude wurde er dann ganz übermütig. Während ich noch im Gebet stand, dem Abendgebet gleich nach Sonnenuntergang, war er längst fertig mit Beten. Laut und fröhlich zog er mit Hamudi und Ibrahim im Gefolge durch Haus und Hof, so eine Art Gänsemarsch, und sie sangen etwas. Im Kreis marschierten sie durch die drei Dielen, die ineinander übergehen, an meinem Zimmer vorbei, durch zwei Höfe. Mir wurde bewußt, daß ich mit meinen Gedanken bei den Jungen war, nicht bei meinem Gebet. Es galt doch aber, nicht nur körperlich dem Leben, das da rund um mich pulste, den Rücken zu drehen. Was half war der Gedanke, daß man ja eines Tages all dies, dieses Leben würde hinter sich lassen müssen.

Einfach überhaupt nicht 
  Ich kannte niemanden in der Nachbarschaft. Meine Zuständigkeit endete an den Mauern unseres Anwesen, die hoch genug waren, uns vor Blicken zu schützen und so unser etwa vierhundert Quadratmeter großes Zuhause zu einer eigenen Welt machten. War das richtig so? "Wer an Gott glaubt und an den Tag des Jüngsten Gerichts, der soll gut sein zu seinem Nachbarn." hatte der Prophet gelehrt.  Ich war nicht gut zu meinen Nachbarn, sondern ich war einfach überhaupt nicht.
  Als wir eingezogen waren, waren einige Frauen aus der Nachbarschaft aufgetaucht, um mich zu begrüßen. Es kam mir plötzlich, und ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, was war normal für sie? Hatte ich ihnen damals überhaupt etwas angeboten, oder war ich zu überrumpelt gewesen? "Wer an Gott glaubt  und an den Tag des Jüngsten Gerichts, der soll seinen Gast zuvorkommend behandeln!" Ich konnte mich nicht verständigen, hatte dieser sudanesische Dialekt denn überhaupt irgendetwas mit Arabisch zu tun?! Sowohl für mich als auch für meine Besucherinnen war es eher ein verwirrendes Erlebnis - ja, schon die so ungewohnten Gesichtszüge der Afrikanerinnen spielten auch eine Rolle, und ich sah für sie ebenfalls seltsam genug aus und war zuhause natürlich ganz anders angezogen, als für sie gewohnt.
  Mein Mann hatte mich davon abgehalten, diesen Begrüßungsbesuch mit Besuchen meinerseits zu erwidern. Ich war nicht böse darum. Nur die Frage war eben - war das richtig so? Wie konnte man gut zu seinen Nachbarn sein, wenn man sie gar nicht kannte und keine Ahnung hatte, wie es ihnen ging?
  Ebenfalls auf den ausdrücklichen Wunsch meines Mannes blieb unsere Hoftor geschlossen. Wer uns besuchen wollte, sollte schon erst mal klingeln. Wenn ich das richtig verstanden hatte, war das hier aber überhaupt nicht den Sitten entsprechend. Die Haustüren standen offen, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Im Islam muß man doch aber erst um Erlaubnis bitten, bevor man ein fremdes Haus betritt! Das stand nun sogar im Koran. Konnte man die offenstehenden Haus- oder Hoftüren einfach als Generalerlaubnis interpretieren? Und auch sonst führten die sudanesischen Frauen ein recht mobiles Sozialleben. Immer sah man sie in ihren prächtigen, so herrlich farbenfrohen Gewändern zu Fuß unterwegs. Sie absolvierten ein ausgedehntes Pflichtprogramm an gegenseitigen Besuchen, wer auch nur ein bißchen Kopfweh hatte, mußte besucht werden, hatte ich mir erzählen lassen. Ich hatte den Ausspruch des Propheten nicht parat, wußte aber sicher, daß ein Krankenbesuch im Islam eine sehr löbliche Sache ist. Doch wie schafften die Sudanesinnen es, ihre Kinder zu versorgen, zu erziehen, ihren Haushalt zu führen bei diesen reichen Aktivitäten außer Haus? Obwohl ich zumindest meistens eine Putzfrau hatte, mein Mann die Einkäufe erledigte und die Kinder doch auch das eine oder andere mithalfen, kam ich mit meiner Hausarbeit kaum über die Runden.
  "Wer an Gott glaubt und an den Tag des Jüngsten Gerichts, der soll gut sein zu seinem Nachbarn."
      In der türkischen Gastarbeiterfamilie, durch die ich dem Islam begegnet war, hatte mich die Mutter sofort in ihr großes Herz geschlossen. Sie hatte keine Tochter, ich hatte keine Mutter  - es war Liebe auf den ersten Blick. Wie schade aber, daß sie kein Deutsch konnte, und wir deshalb bei unserer Verständigung auf die Übersetzung durch ihre Söhne angewiesen waren! Immer war die Kritik an dieser Art von Ausländern selbstverständlich gewesen, die bereits jahrzehntelang in Deutschland lebten, aber trotzdem noch kein Deutsch konnten. Gut - war nun das, was ich hier im Sudan lebte, nicht im Grunde dasselbe? Da plagten mich schon die Zweifel.
  Auf meinen Mann zu hören, war mir im Laufe unserer nun schon recht langen Ehe vom Prinzip her - wenigstens vom Prinzip her, seufz! - selbstverständlich geworden, wenn es dahin auch ein langer Weg gewesen war. War es doch gerade meine aufmüpfige Natur gewesen, die mich zum Islam geführt hatte! Ich hatte mich dagegen gewehrt, zu denken, was man eben dachte und zu tun, was man eben tut, weil man mir einfach nicht gut genug war. Lange hatte ich geglaubt, ich müßte durch Nachdenken zu einem eigenen Ergebnis kommen, wonach ich mich denn nun in meinem Leben richten wollte und was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich war schon überrascht gewesen, als ich dann den Islam entdeckte und es fertige Antworten gab, die ganz einfach paßten. Überrascht und froh, sehr froh.
  Auf meinen Mann hören - daß ich damit gut fuhr, wurde mit der Zeit ein Erfahrungswert, besonders dann, wenn ich mal wieder dazu neigte, den Islam zu zweihundertprozentig und stur buchstabengetreu leben zu wollen! Was die Theorie anging, so war mir natürlich sehr wichtig, daß Gehorsam immer um Gottes willen sein sollte, und sich Gottes Willen unterordnen mußte. "Gehorche keinem Geschöpf, wenn damit Ungehorsam gegen den Schöpfer verbunden ist." hatte der Prophet gesagt. Das paßte eigentlich auch zu dem, was mir mein Grundschullehrer ins Poesiealbum geschrieben hatte und aus der Bibel stammte:  "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen."
  Womit ich wieder bei meinen Nachbarinnen war. Vielleicht machte mein Mann da etwas falsch, daß er nicht wollte, daß ich die mal besuchte, so daß sie natürlich auch nicht wieder kamen? Verantwortlich vor Gott ist man immer, und man wird sich am Jüngsten Gericht nicht damit rausreden können, daß man jemandem anderen hinterhergetappt ist. "An jenem Tag, an dem sich jene, denen Folge geleistet wurde, lossagen von denen, die Folge leisteten. Da sehen sie die Strafe, und alle Beziehungen zwischen ihnen werden hinfällig. Und die, die Folge leisteten, sagen: Hätten wir doch nur eine Möglichkeit, nochmal in das diesseitige Leben zurückzukehren!  Dann würden wir uns von denen lossagen, denen wir Folge geleistet haben, so wie sie sich jetzt von uns losgesagt haben. So zeigt ihnen Allah, was sie getan haben und jetzt nur noch bedauern können. Und sie können aus dem Feuer nicht heraus."
  So stand das im Koran! Und dann hatte unser geliebter Prophet doch noch etwas über gute Nachbarschaft gesagt, wie war das genau, über einen Muslim, der wohlgesättigt übernachtet, während sein Nachbar hungrig ist? Das mußte ich nachschlagen, das war das Argument, ja, da würde ich meinen Mann überzeugen können, daß wir uns ändern müßten! Natürlich würde das unser Leben durcheinanderbringen und ein bißchen unbequem sein, aber wo es doch für Allah war!
  Es kostete mich einige Mühe, den Ausspruch des Propheten zu finden. Und dann stand da :  "Bei Gott, es hat keinen Glauben im Herzen, wer wohlgesättigt zu Bett geht, während sein Nachbar Hunger leidet, wenn er davon weiß." Hm... wenn er davon weiß... also wenn das so war...  Außerdem war mir inzwischen auch jenes andere Wort des Propheten eingefallen: "Wenn eine Frau auf ihren Mann hört, ihre täglichen fünf Gebete verrichtet, jedes Jahr den Monat Ramadan fastet und keine außerehelichen sexuellen Beziehungen eingeht, kann sie sich aussuchen, durch welches Tor sie das Paradies betreten will." Also konnte ich doch ein bißchen Verantwortung abwälzen und mich auf Kinder, Küche und Koran konzentrieren, was mir ja eigentlich ganz lieb war?
  Mein Mann kam müde und abgeschafft nach hause. Gott sei Dank hatte ich trotz meiner tiefgründigen Überlegungen ein Abendessen für ihn. Ich sah, wie es ihm schmeckte, und das machte mich glücklich. Gott sei Dank! Nun gut, das Thema Nachbarschaft würde ich erst mal auf sich beruhen lassen...

Von Armut und Reichtum
  Erleichtert atmete ich auf. Hinter uns schloss sich das Hoftor, wir stiegen aus dem Auto und waren zurück in unserer doch recht heilen Welt. Welch ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit, meine halbautomatische Waschmaschine neben dem Waschstein im Frauenhof stehen zu sehen, wenn ich sie auch plötzlich mit anderen Augen sah.
  Der kleine Ausflug, auf den ich mich eigentlich gefreut hatte - endlich einmal etwas anderes als dreckiges Geschirr und plagende Kinder - war zu einem bedrückenden Erlebnis geworden. Mein Mann hatte uns nur im Auto ein bißchen spazierenfahren wollen, schön angelegte Spazierwege konnte er uns ja leider nicht bieten, auch keinen deutschen Wald zum Wandern. Und unversehens hatten wir uns in ärmlichsten Vorstadtvierteln von Khartum wiedergefunden.
  So ärmlich - ich konnte das immer noch nicht ganz fassen. Auf Stecken gehängt ein paar Jutesackfetzen, die wackelige Bettgestelle nur halb verdecken konnten, halbnackte und nackte Kinder mit filzigen Haaren, Fliegen in ihren Mund- und Augenwinkeln, irgendwo eine Teekanne auf dem Boden.... Ich musste tief durchatmen. Wie lebten diese Menschen? Wer waren sie? Sie starrten auf unser glänzendes Auto, wir mussten ihnen vorkommen wie die grünen Männlein vom Mars. Aber lustig konnte ich nicht mal diesen Gedanken finden. Irgendwie waren wir hier falsch, oder was war falsch?
  Auch die Kinder waren eine Spur stiller als gewohnt. Routinemäßig machte ich mich in der Küche zu schaffen, wo es natürlich wie immer noch einen Rest Geschirr abzuwaschen gab. Das fliessende Wasser, überhaupt Wasser...
  Als Kind hatte ich durchaus erlebt, daß es nicht selbstverständlich war, immer ein chromkachelblitzendes Badezimmer neben sich zu haben. Dafür hatte mein Vater gesorgt, der uns auf  zünftigen Hochgebirgswanderungen über die Alpengipfel jagte oder auch mal einfach irgendwo wild campen ließ. Was hatte er uns damit Gutes getan! Trotzdem hatte ich mich, als ich zum ersten Mal in einem Haus voll arabischer Frauen und Kinder bei einer Kondolenz  erlebte, daß einfach kein Wasser aus dem Hahn kam, sofort gefragt, wie lange man so überhaupt überleben kann und hatte das Gefühl: Keinen Augenblick! Das stimmte nicht, erlebte ich dann.
  Aber was ich hier und heute erlebt hatte, war noch einmal etwas anderes. Es war einfach trostlose Armut. Wie lebten diese Menschen, wer waren sie? Das würde ich nie erfahren, sie lebten auf einem anderen Stern. Man muss etwas abgeben von seinem Wohlstand, ja, das war schon klar, es steht ja tausendmal im Koran. Irgendwo in meinem Kopf das nebelige Bild einer Schwester Teresa in Kalkutta. War es das? Nein, nein, meine Aufgabe war mit Sicherheit, hier meine Kinder nach besten Kräften groß zu ziehen und meinem Mann den Rücken zu stärken.
  Als ich vor vielen Jahren Deutschland verließ, um in Spanien meinen Mann zu heiraten, sehnte ich mich nach einem einfachen Leben. Ich packte das allerwichtigste schön säuberlich in große Kartons und brachte sie auf die Post, den Rest verkaufte und verschenkte ich. Natürlich kostete es Überwindung, mich von vielen geliebten Dingen zu trennen, und ich hatte durchaus Angst, daß mir manches fehlen würden, aber insgesamt empfand ich es als Befreiung. Ballast abwerfen, sich auf das Wichtigste beschränken, das empfand ich als Freiheit. Dem Wohlstand in Deutschland zu entkommen, wo sich mir alles nur um Materielles zu drehen schien, ließ mich aufatmen, und es war kein Zufall, daß ich mir mit der Heirat in Granada, Südspanien, die einfachste Umgebung ausgesucht hatte, die sich mir bot.
  War Armut ein Ziel? Meine Kusine, die sich zum Eintritt in ein Franziskanerinnenkloster entschloß, gelobte dazu Zölibat, Armut und Gehorsam.  Und im Islam gab es viele Berichte darüber, wie einfach, asketisch und anspruchslos unser Prophet lebte. Er schlief auf einer einfachen geflochtenen Matte, die ihren Abdruck auf seinem Gesicht hinterließ, flickte seine Sandalen eigenhändig, und einmal lebten er und seine Familie zwei volle Monate lang nur von Wasser und Datteln.
  Bestimmt war es Stärke, sich einschränken, sich mit wenig begnügen zu können. Aber meine negative Einstellung zu Wohlstand und materiellen Gütern war falsch. Umm Ahmed, meine beste irakische Freundin, die so viel mehr wußte über den Islam als ich, hatte sie mir mit ihren Erklärungen mit Geduld und Spucke allmählich ausgetrieben, diese meine falsche Einstellung. Wie liebte ich sie doch dafür! Wohlstand, Hab und Gut, Geld - das sind Geschenke von Gott. Sich etwas auf sie einzubilden, zu meinen, man habe es seinen Fähigkeiten zu verdanken, wenn man etwas besitzt, sich aufgrund seines Vermögens für etwas besseres zu halten oder Reichtum gar als Beweis für Gottes Gunst zu verstehen - das wäre falsch. Reichtum ist Verantwortung. Wir werden einst Rechenschaft ablegen müssen - ob wir unseren Reichtum auf rechtmässigem Wege erworben haben und dann - was wir mit ihm gemacht haben.

Meine Geschichte
  Meine Besucherin, eine junge Tunesierin, faßte sich ein Herz. „Wie bist du Muslim geworden?“, fragte sie.  Ich freute mich, daß die Frage gestellt wurde, war sie doch die einzig vernünftige Reaktion auf ihre Überraschung, daß es so etwas wie mich überhaupt gab. Da war ich aus Deutschland, Muslimin, hatte, ma scha Allah, eine stattliche Anzahl von Kinder, sprach Hocharabisch – wo konnte man das einordnen?!
  Chadidscha und Fatima freuten sich auch und waren gespannt, wie meine Geschichte wohl diesmal ausfallen würde. Ich konnte sie ja ganz kurz fassen: Als Studentin hatte ich eine türkische Familie kennengelernt. Damals hatte mich die Frage nach Gott beschäftigt. Da meinten sie gleich, ich solle doch Muslim werden. Wie das denn funktioniere, hatte ich wissen wollen und hatte es mir kompliziert vorgestellt. Ich müsse nur sagen „La ilaha illa llah, Muhammadun rasulu llah – Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet“, dann sei ich schon Muslim. Schön einfach, hm.
  Daß es nur einen Gott gibt, eben Gott, hatte ich zu dem Zeitpunkt schon klar, Gott sei Dank. Was sie mir denn über Gott sagen könnten? Das war doch das, was mich so brennend interessierte, die Frage, auf die ich nirgendwo eine gute Antwort bekommen hatte – nicht in den aufwühlenden Diskussionen mit Renate und Patrick, die ihr ganz eigenes Christentum radikal zu verwirklichen suchten, nicht bei der Lektüre des Neuen Testaments auf Französisch, das mir Theologiestudenten im Wohnheim geschenkt hatten, nicht bei den Altkatholiken, von denen es in Heidelberg auch welche gab, und nicht im Evangelischen Bibelkreis.
  Gelobt sei Gott, Der dem ältesten Sohn der türkischen Familie damals eingab, eine kurze Sure des Korans nach bestem Wissen und Gewissen ins Deutsche zu übersetzen: „Gott ist einzig, Gott ist ewig, Er zeugte nicht und wurde nicht gezeugt, und niemand ist Ihm gleich.“ Er tat sich ein bißchen schwer, obwohl er gut Deutsch konnte. Aber alles was mit dem Islam zu tun hatte, kannte er natürlich nur auf Türkisch. Ich war hin und weg. Alles stimmte, das war klar, und: „Er zeugte nicht und wurde nicht gezeugt.“ – das war wahr und klar, und besser als das Christentum, wo ich mich immer um Jesus herumgemogelt hatte. Nein, zu Jesus zu beten, auf die Idee wäre ich nie gekommen, nachdem das Beten überhaupt erst zu einem Teil meines Lebens geworden war.
  Gut, so viel zu Gott. Aber wie konnte ich denn bestätigen oder bezeugen, daß Mohammed wirklich Gottes Prophet war, woher sollte ich das denn wissen? Man erklärte mir, daß Gott den Menschen viele Propheten geschickt hat, Menschen im Laufe der Geschichte der Menschheit, greifbare Personen aus Fleisch und Blut, die Offenbarung empfangen haben, Gottes Wort. Und die Botschaft hatte immer denselben Kern. Sie war ein Aufruf an die Menschen, sich niemandem anderen als Gott zu unterwerfen, und eine Anleitung, wie sie ein gutes, rechtschaffenes Leben führen konnten. Das war einleuchtend und überzeugend und ließ die Menschheit in ihrer ganzen Vielfalt, all die Völker und Kulturen, zu einer Menschheit werden.
  Und dann war wichtig gewesen: Einer der Söhne in der türkischen Familie studierte ein naturwissenschaftliches Fach. Er erklärte mir, daß er als Muslim gar kein Problem damit hatte, Glaube und moderne Wissenschaften miteinander zu vereinbaren. Das war ja toll! Ich selbst hatte wenig mit Naturwissenschaften am Hut, mein Interesse hatte Sprachen, Literatur, Kunst, Psychologie und Soziologie gegolten. Nachdem ich überhaupt zum Glauben an Gott gefunden hatte, schien es unmöglich, das meinem Vater zu erklären, war er doch Naturwissenschaftler und erklärter Atheist.
  „Mama, du hast gar nicht erzählt, wie du überhaupt zum Glauben an Gott gekommen bist.“ Ein Blick auf meine Zuhörerin, sie war ganz bei der Sache, also würde ich das auch noch erzählen. Daß sie sich die Deutschen nicht so vorstellen dürfe, daß sie halt Christen seien und ihre Religion praktizierten. Als kleines Mädchen hatte ich niemanden erlebt, der wirklich religiös war. Und mein Vater hatte mir erklärt: „Den lieben Gott, den gibt´s gar nicht, das haben die sich bloß ausgedacht, damit die Leute schön brav sind.“  Mein Vater liebte mich sehr, und er war ein ehrlicher Mensch. Was er sagte, war für mich unumstößlich wahr. Als ich dann dreizehn war, starb meine Mutter plötzlich einen tragischen Tod. Da entdeckte ich, daß die Erwachsenen, auch mein Vater, nichts wußten. Keiner wußte erwas Vernünftiges zu sagen, das beste war noch irgendetwas von Erde und Rückkehr aus dem Munde des Pfarrers bei der Beerdigung. Das Leben ging dann weiter, aber ich wußte nun, daß ich selber denken mußte. Als Studentin stellte sich dann immer dringender die Frage, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte.
  „Da kannst alles, was die Männer können“, hatte mir mein Vater als kleinem Mädchen gesagt. Stolz war er gewesen auf sein hübsches, begabtes Töchterchen. In der Schule war ich immer die Beste gewesen, an Selbstbewußtsein fehlte es mir nicht. Ich las schon als kleines Mädchen mit Begeisterung alles, was mir in die Hände fiel. Die höchstens zehn Bücher, die man sich in der Gemeindebücherei pro Woche ausleihen durfte, waren mir eigentlich zu wenig. Später las ich dann mit Begeisterung Frauenliteratur. Selbstverständlich bezeichnete ich mich als emanzipiert, ja als feministisch. Bloß, wo sollte das hinführen, da war doch der natürliche Wunsch nach Heiraten, Kindern...
  Die Muster, die ich bei der älteren Generation erkannt hatte, wollte ich nicht nachleben. Ganz bestimmt wollte ich keine Ehefrau sein, die sich unterordnete aus materieller, emotionaler, sozialer oder sonstiger Abhängigkeit, aus Schwäche eben – nein, dazu war ich viel zu stolz und selbstbewußt! Oder aber, das zweite Modell: Die Frau, die vorneherum den Männern die Verantwortung für alles zuschob, aber fein und raffiniert gerade damit hintenherum doch für ihren Einfluß sorgte. Und Familien, in denen ganz offen die Frau die Hosen anhatte – na, das war ja wohl einfach häßlich.
  Und auch darauf bekam ich nun eine Antwort, die genauso einfach war wie grandios. Die Mutter in der türkischen Familie hatte mich ohne Umstände gleich in ihr Herz geschlossen, nur schade, daß sie nicht viel Deutsch konnte. Ihre Söhne erklärten mir: „Unsere Mutter horcht auf unseren Vater, aber nicht weil sie Angst vor ihm hat, sondern weil sie Ehrfurcht hat vor Allah!“  Das war die Lösung!!! Der Mann mußte das Sagen haben, das war ja doch eigentlich klar. Und es würde immer Situationen geben, wo einer nachgeben müßte, sonst würden eben alle Beziehungen in die Brüche gehen, wie das unter den Studenten rund um mich an der Tagesordnung war. Aber wenn die Frau sich unterordnete aus ihrem Glauben heraus, war das Stärke, nicht bemitleidenswerte Schäche, und sie behielt, nein, erhielt ihre Würde!!
  Der fünfte und letzte Punkt: Weich verpackt erklärte man mir die islamische Einstellung zu Sexualität. Wenn der Vater der Mutter einen Kuß gäbe, ja, dann könne er sich von Allah eine Belohnung versprechen!
  Ein Blick auf meine arabische Zuhörerin: Ich mußte wohl erklären, daß die Freizügigkeit heute im Westen eigentlich die Reaktion auf die Sexualitätsfeindlichkeit der Kirche gewesen war.  Da gab es eben Mönche und Nonnen, sexuelle Enthaltsamkeit war ein Ideal, folglich selbst ein anständiges Eheleben und damit unser aller Entstehen nur ein Zugeständnis an menschliche Schwäche.
  Noch ein Blick auf meine Zuhörerin – wie viel konnte ich ihr noch zumuten? Daß ich damals ganz naiv gefragt hatte: „Ja, und was ist, wenn sie nicht verheiratet sind?“ So wenig Bedeutung hatte Heiraten unter uns jungen Leuten gehabt, ein bloßes Papier, z.B. um Steuern zu sparen. Meine Besucherin schaute mich ungläubig an. Vielleicht hätte ich das doch besser weggelassen.
  „Mama, erzähl, wie du deinen ersten Tag gefastet hast!“
    Die Begegnung mit den Türken war wunderbarer – und mit Sicherheit überhaupt nicht zufälligerweise im Ramadan gewesen. Ich sagte ziemlich sofort die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis: „Aschhadu an la ilaha illa llah, wa aschhadu anna muhammadan rasulullah. – Ich bezeuge, daß es nur einen Gott gibt, und daß Mohammed von ihm gesandt ist.“ In meiner türkischen Familie konnte man es zum Teil nicht recht glauben, das war irgendwie zu schnell und einfach gegangen! Sie befürchteten wohl, ich würde so schnell und einfach, wie ich in den Islam eingetreten war, auch wieder austreten. Mir aber war es ganz ernst.
  „Mama, du hast das nicht zuende erzählt, das mit den Eisschollen!“ Natürlich haben meine Kinder noch nie Eisschollen auf der Ostsee gesehen, vielleicht mochten sie die deshalb besonders gern in meiner Geschichte. Mein einsames Wandern in Schleswig-Holstein... Nachdem im Studentenwohnheim, ausgelöst durch Renate und Patrick mit ihrem fundamentalistischen Christentum, die Diskussion um Gott begonnen hatte, wollte ich damals zu einem Schluß kommen – gab es Gott denn nun oder nicht? Ich wollte eigentlich schon gerne an Gott glauben. Aber man konnte doch nicht einfach an Gott glauben, nur weil es so schön war! Deshalb schulterte ich meinen Rucksack und fuhr nach Schleswig-Holstein, ich wollte mir das ganz in Ruhe, weit weg von allem und allen, alleine überlegen. Den Glauben an Gott, das sichere Wissen, daß es Gott gibt, das Wissen: „Gott, Du bist da!“ bekam ich geschenkt. Anders kann ich das nicht ausdrücken. Das war ein ganz bestimmter Zeitpunkt, an einem ganz bestimmten Ort, in einer kleinen, bildnislosen uralten Kirche in Tinnum auf der Insel Sylt. Ich weinte vor Erleichterung, eine junge Frau, die die Kirche besichtigte, fragte, ob ich vielleicht Hilfe bräuchte. ( Mein Vater nannte das dann später, als ich Muslim geworden war, mit Kopftuch erschien und nicht länger verheimlichte, daß ich an Gott glaubte, spöttisch mein „Erleuchtungserlebnis“.) Von da an begann ich, Gott zu bitten, damals mit gefalteten Händen, das ist nicht wichtig. Ich weiß noch, wie ich Gott dann bat, angesichts all der verschiedenen christlichen Gruppierungen und Aktivitäten in unserer kleinen Universitätsstadt, Er möge mich eine wahre Christin sein lassen.
  Als ich dann drei Monate später den Islam annahm, bat ich Gott um einen guten Mann und darum, mich im Glauben zu festigen.
  „Mama, du hast immer noch nicht erzählt, wie du den ersten Ramadantag gefastet hast.“ Mein Zuhörerin hatte feuchte Augen bekommen, und auch für mich war es alles andere als Routine, diese meine Geschichte zu erzählen. Da war etwas Großes geschehen, und wie Groß war doch Jener, Der dies alles hatte geschehen lassen.
  Mein erster Ramadantag, das war ein lustiger Abschluß. Ich kriegte damals dann mit, daß gerade Ramadan war. Und daß die Muslime im Ramadan fasten, wenigstens so weit reichte meine Allgemeinbildung. Also aß ich den ganzen Tag nichts. Ich war bei Renate eingeladen, und wegen mir hatte sie den Zwiebelkuchen extra ohne Speck gemacht, von wegen Schweinefleisch, das war doch verboten, oder? Sie war dann ganz enttäuscht, als ich nichts aß! Wohl trank ich aber den ganzen Tag... Vorsichtig erklärten mir dann meine lieben Türken, daß das so nicht richtig war, und auch ganz behutsam ließen sie mich etwas später wissen, daß es vorgeschriebene Gebete gab...

Am Tag des Gerichts
Ich bekam eine Mordswut. Den ganzen Tag hatte ich mich mit den Kindern befaßt, anderes, wozu ich eigentlich mehr Lust gehabt hätte, hintenangestellt, war erschöpft und müde. Die Kinder waren fertig zum Ins-Bett-Gehen. Und dann dieser blödsinnige, hirnverbrannte, völlig überflüssige Streit, wer denn nun den frisch gefüllten Wasserbehälter vom Hof zu seinem Platz in der mittleren Diele tragen müsse. Das waren ungefähr zehn Meter, vielleicht zwölf.
  „Mama, denkst du dran,“ sagte mein Sohn Abdullah, und seine Stimme klang anders als gewohnt, „wie diejenigen am Tag des Gerichts dastehen, die anderen das Schlechte verboten haben, aber es selbst gemacht haben?“  „Was? Wieso?“  fragte ich verblüfft. Er sagte: „Du verbietest uns, uns gegenseitig zu beschimpfen, und dann beschimpfst du uns.“  „Was? Ich beschimpfe euch?“  „Ja, grad eben hast du ... gesagt.“ Er hatte recht.
  Ich bekam einen rechten Schreck. Gott sei Dank.

Furcht vor Allah
  Schon wieder! Ich sprang aus dem Bett. Gott sei Dank schlief Musa trotzdem friedlich weiter. Es war sechs Uhr, noch eine gute halbe Stunde bis zum Sonnenaufgang, dem Ende der Gebetszeit für das Morgengebet, die um halb fünf begann. Ich schaute noch einmal genau hin, ja, es war wirklich schon sechs. Draußen war es noch ungewöhnlich dunkel für diese Zeit, aha, der Himmel war bewölkt. Warum war ich nicht um halb fünf wachgeworden? Ich war mir nicht ganz sicher, aber mir schien, als wäre ich aufgestanden, hätte den Wecker, der wohlweislich in einiger Entfernung vom Bett auf dem Schreibtisch stand, ausgemacht, mich wieder hingelegt und sofort weitergeschlafen.
  Eilig weckte ich alle Familienmitglieder, die auch beteten, Sadek und die drei Großen, verrichtete schnell die rituelle Waschung zum Gebet, Hände, Mund, Nase – man zieht das Wasser vorsichtig in die Nasenlöcher hoch und prustet es dann aus - , Gesicht, Unterarme, übers Haar, dann über die Ohrmuscheln fahren, die Füße bis zu den Knöcheln.
   Ich entschied, die zwei freiwilligen Gebetsabschnitte vor dem Morgengebet wegzulassen. Der Prophet hat gesagt, daß diese zwei Gebetsabschnitte mehr wert sind als die ganze diesseitige Welt und alles, was zu ihr gehört. Aber es war einfach schon zu spät. Lag ich da richtig? Ich wußte es nicht genau und schämte mich dafür, meine Entscheidung nur so nach Gefühl zu treffen. Man ist dafür verantwortlich, zu wissen. Dann, nach seinem Wissen zu handeln.
  Im Gebet ein unerwartetes Geschenk. Ich fühlte die Furcht vor Allah, Furcht, Seine Gunst zu verlieren. Seine Gunst – da stand ich nun täglich zu nachtschlafender Zeit auf, schaufelte mir kaltes, wenn auch nicht sehr kaltes Wasser ins Gesicht, beugte mich dann artig und warf mich nieder... Als ich gerade Muslim geworden war, angefangen hatte, das vorgeschriebene rituelle Gebet zu erlernen, wisperte ein Scheitan: Und das willst du nun dein Leben lang durchhalten, fünfmal am Tag beten... Es war gar nicht schwer gewesen, das durchzuhalten, nur einige wenige Male war ich in Verlegenheit gekommen, weil ich einen Termin ausgemacht hatte, ohne die Gebetszeiten zu beachten. In Deutschland kann man sich ja nicht einfach, egal wo man ist, an die Seite stellen, um sein Gebet zu verrichten. Auch im Zusammensein mit meinen nichtmuslimischen Verwandten hatte es mich ein paar mal Überwindung gekostet, mitten in einem guten Gespräch plötzlich zu sagen, du, tut mir leid, ich muß jetzt erst mal beten. Ich mußte an all die Schwestern in Europa denken, die arbeiten gehen müssen, danke lieber Gott, daß ich es so viel einfacher habe, Dir wohlgefällig zu sein, wie ich hoffe.
  War ich es denn auch wirklich? Was hatte ich alles falschgemacht und hatte es dann schnell verdrängt? War ich nachlässig gewesen, hatte ich mich ablenken lassen? War ich ungerecht gewesen zu den Kindern, war mein Mann zu kurz gekommen? Vielleicht hatte ich etwas Unrechtes gesagt? Die  eigene Zunge ist das, was einem am gefährlichsten werden kann.
  Furcht, Allahs Gunst zu verlieren. Den Glauben hat niemand für sich gepachtet. Niemand weiß, was er am nächsten Tag tun wird. Der Prophet  sprach von Menschen, die ihr Leben lang Werke tun, die ins Paradies führen, bis sie das Paradies fast erreicht haben. Dann tun sie Werke, die ins Feuer führen, und sie kommen ins Feuer. Und er sprach von Menschen, die ihr Leben lang Werke tun, die ins Feuer führen, bis sie schon fast im Feuer geendet sind. Dann tun sie Werke, die ins Paradies führen, und sie kommen ins Paradies... Was hat Allah mit mir vor? Wir haben unsere Pläne, und Allah hat die Seinen...
  Der Prophet erzählte von einem Mann, der Gott achtzig Jahre lang fromm gedient hatte. Am Tag des Jüngsten Gerichts befiehlt Gott den Engeln der Barmherzigkeit, sie mögen ihn aus Barmherzigkeit das Paradies betreten lassen. Da sagt der Mann: " Oh nein, ich will das Paradies betreten als Belohnung für meine guten Taten!" Da läßt Gott die guten Taten des Mannes in die eine Waagschale lege. In die andere Waagschale wird lediglich die Gottesgabe des Sehvermögens gelegt. Und siehe da: Allein die Gabe, sehen zu können wiegt schwerer als all die guten Werke in einem achtzigjährigen frommen Leben! Als nun die Engel der Strafe den Mann ins Höllenfeuer nehmen wollen, sagt er schnell: "Nein, nein, o Gott, lass mich dein Paradies betreten aus Barmherzigkeit von Dir!" Und da nehmen ihn die Engel der Barmherzigkeit mit Gottes Erlaubnis ins Paradies...
  Fast 23 Jahre meines Lebens wußte ich nichts von Allah, ahnte nicht, daß ich einmal Muslim sein würde. Da waren schon Vorzeichen gewesen, aber ich konnte sie noch nicht deuten. Der  heilige Zorn, der mich damals ergriff, als eine erwachsene Person, zu der ich eigentlich sehr aufschaute, so arrogant zu ihren Eltern war, daß dieser Zorn mich dann wagen ließ zu sagen: „Sag mal, wenn du mal alt bist, willst du etwa, daß deine Kinder dich dann so behandeln?“ – Bei einem  Besuch des Schloßparks in Schwetzingen war dort die Übersetzung einiger Koransprüche in roten Sandstein gehauen. Ich las sie damals laut und meinte: „Ja, das stimmt eigentlich alles.“  Und dachte nicht weiter drüber nach... – Angesichts der Freizügigkeit des Heidelberger Studentenlebens war da dann der Wunsch, doch die Unschuld zurückzugewinnen, und das Wichtigste war da noch nicht einmal die Beziehung zwischen Männlein und Weiblein. Vielmehr implizierte der Wunsch doch auch das Wissen, daß wir alle auch in anderer Weise schuldig waren, all das Geschimpfe über unsere Eltern, die doch unser Studium finanzierten... – Und noch mal so eine Art heiliger Zorn, als der Dozent, Leiter der Spanischen Abteilung und der Dolmetscherkonferenz, vor dem alle gehörigen Respekt hatten, im Seminar meinte, wir seien uns ja gar nicht bewußt, wieviele feste Ausdrücke und Wendungen unserer deutschen Sprache doch eigentlich aus der Bibel stammten, wir sollten mal ab und zu, vor dem Einschlafen und nur so zum Spaß, ein bißchen in der Bibel lesen. Zornig meinte ich damals – es muß kurz vor meiner Begegnung mit dem Islam gewesen sein -, daß man in der Bibel vielleich auch nicht nur so zum Spaß lesen könne... Alle sahen mich etwas erschrocken an, wie ich so unerschrocken sein konnte, der Dozent war verdutzt, behandelte mich von diesem Tag an aber und auch später noch, als ich dann mit Kopftuch erschien, mit mehr Respekt als zuvor.

Mehr als zehn Jahre später

Mehr als zehn Jahre sind vergangen seit dem Tag, an dem ich begann, dieses Buch zu schreiben. In dieser Zeit ist dann noch viel geschehen, vielleicht schreibe ich darüber ein anderes Mal. Mein Leben hat sich verändert, ich habe mich verändert. Älter bin ich geworden, natürlich, und die Kinder sind groß geworden, einige sind nun schon erwachsen.
Ich lebe heute wieder im Sudan. Nicht weit entfernt gibt es ein schmuckloses Gräberfeld. Wenn ich dort vorbeikomme, denke ich an ein anderes Grab, weit entfernt, im Irak, wo der Vater meiner Kinder inzwischen begraben liegt. Möge Allah ihm barmherzig sein, ihm vergeben und ihn reich belohnen, für all das Gute, daß er mir und meinen Kindern getan hat.
 Ich grüße das Gräberfeld, wie es uns der Prophet gelehrt hat: "Friede sei über euch in dieser Wohnstätte gläubiger Menschen. Ihr seid uns vorausgegangen, und so Gott will, werden wir euch nachfolgen." Und ich frage mich, ob ich vielleicht einmal hier begraben sein werde, in dem sandig-lehmigen Boden dieses staubigen Landes.
  Nicht, daß mich das sehr beschäftigen würde, die Frage, wo mein Grab wohl einmal liegen wird. Die ganze Erde gehört Allah. Sicher weiß ich, daß ich vor Ihm stehen werde am Tag des Gerichts, vor Ihm, Gott, Dem Schöpfer. Ich hoffe und wünsche mir so sehr, daß Er mich dann mit Milde, Güte und Nachsicht behandeln und meine Fehler und Unzulänglichkeiten einfach vergebend beiseite wischen wird. Und mir dann gesagt wird: Du hast es gut gemacht, und du darfst Mein Paradies betreten. - Ich bitte darum. Denn Gott ist Reich,und ich bin bedürftig, Er ist Stark, und ich bin schwach, Er ist Mächtig, und keiner schützt mich vor Erniedrigung und Schmach, wenn nicht Er.
  Belächelt zu werden von jenen, die um Gott nicht wissen, soll mich nicht stören. Von Herzen wünsche ich jedem Menschen, der mein Buch lesen wird, daß es ihm nützen möge, daß Gott ihm den Glauben an Ihn schenken möge oder stärken. Gott ist so groß, Seine Güte unfaßbar groß. Er verfügt über die Schätze des Himmels und der Erde, mit offenen Händen verteilt Er sie, wie Er will.  Jedem meiner Leser wünsche ich das Wissen darum, wünsche ihm, doch bittend die Hände zu heben und zu sagen: O mein Gott, leite mich.